Kolumne

Die Auflösung als Motiv der Literatur

Ich glaube, ich bin einem neuen Phänomen auf der Spur. Das erste Mal ist es mir begegnet, als ich Elena Ferrantes neapolitanische Saga gelesen habe. Dann bin ich ihm wieder in Alessandro Bariccos Roman „Mr. Gwyn“ begegnet. Und als ich so darüber nachdachte, fiel mir auf, dass es vielleicht doch kein ganz neues Phänomen ist. Die Rede ist natürlich, wie der Titel dieses Beitrags schon sagt, von der Auflösung als Motiv in der Literatur.

Was ist Auflösung als Motiv der Literatur?

Sie erlebte das, was ich bereits erwähnte, das, was sie später als Auflösung bezeichnete. Es war – erzählte sie mir -, als zöge in einer Vollmondnacht über dem Meer die Masse eines pechschwarzen Unwetters am Himmel herauf, verschlänge alles Licht, zerfräße den Rand des Mondes und entstellte die helle Scheibe, indem sie sie auf ihre wahre Natur einer rohen, leblosen Materie reduzierte.

Elena Ferrante in „meine geniale Freundin“

Diese Passage aus Elena Ferrantes erstem neapolitanischen Roman „meine geniale Freundin“ ist die erste in ihrer Saga, in der das Motiv der Auflösung angesprochen wird. Die Passage geht auch noch ein bisschen weiter. Lila beschreibt ihrer Freundin Lenù (Protagonistin des Romans), wie die anderen Figuren ihre Konturen verlieren oder zerspringen. Sie hat nicht nur selbst das Gefühl, sich aufzulösen, sondern sieht auch andere zerspringen. Übrig bleibt, wie in der oben zitierten Textstelle, etwas Unbelebtes. Es wirkt geradezu so als ahne die Figur etwas von ihrer eigenen wahren Natur. Ja, es weht ein Hauch von Meta-Narration über dem Ganzen. Fast so als würde die Figur gerade merken, dass sie und alles um sie herum Teil einer Romanwelt ist.

Figuren in Auflösung sind vielleicht ein neues Motiv in der Literatur. Vielleicht sind sie aber auch nur anders herum gedachte Doppelgänger oder multiple Persönlichkeiten? Eins sind sie für mich auf jeden Fall: Garanten für fettes Lesevergnügen!

Figuren in Auflösung

Ich weiß nicht, ob das Motiv der Auflösung mir so gut gefallen hätte, wenn es so stehen bleiben würde. Zu viele Romane haben schon mehr oder weniger gekonnt mit der Meta-Ebene kokettiert. Berühmtes Beispiel ist Sophies Welt, in der die Figuren sogar aus ihrer Geschichte fliehen können. Schön ist auch ein Kniff in Daniel Kehlmanns „F“. Er lässt eine seiner Figuren erahnen, dass er plant, sie sterben zu lassen. Sie lehnt sich dagegen auf – und gewinnt (übrigen habe ich auch eine eigene Rezension zu diesem Buch verfasst). Ferrante aber noch geht weiter. Sie lässt ihre Figuren nicht zu dem Bewusstsein kommen, konstruiert zu sein. Statt dessen bringt sie ihre Leser dazu, sich die Frage zu stellen, was die Figuren in der Saga eigentlich sind. Vor allem geht es dabei um die beiden Hauptfiguren.

Protagonistin – Antagonistin – gespaltene Erzählerin?

Lila und Lenù, Lina und Lenuccia, Raffaella und Elena – Ferrante spielt mit den Namen der Hauptfiguren. Sie verwebt sie ineinander und darüber hinaus auch noch mit ihrem eigenen Pseudonym. Die eine Freundin spiegelt die Sehnsüchte der anderen. Elenas Ehrgeiz ist auch der Ehrgeiz ihrer Freundin Raffaella. Die Protagonistin lernt, um so zu sein, wie ihre Freundin und sie folgt ihr auch, wenn sie ihre dunklen, unangepassten Ideen auslebt. Anders herum peitscht Lina ihre Freundin geradezu voran, um durch den Erfolg der besten Freundin selbst eine Ahnung des besseren Lebens zu bekommen. Beide verlieben sich später in denselben Mann. Beide versuchen später – die eine durch das Schreiben, die andere durch politischen Aktivismus – das Viertel, in dem sie aufgewachsen sind zu verbessern. Sie sind wie die zwei Seiten derselben Medaille. Und dann ist ein plötzlich weg, verschwunden. Und als Leser fragt man sich: „War sie je da?“ gab es jemals zwei Figuren oder immer nur eine?

Und noch einmal aufgelöste Figuren!

Und es war noch gar nicht lange her, dass ich diese Saga gelesen hatte, da stieß ich schon wieder auf eine ähnliche Auflösung als Motiv eines anderen Romans. Es ist die Geschichte eines Schriftstellers, der nicht mehr Schreiben will und doch nicht anders kann. So wird er Kopist und fertigt Porträts von Menschen an. Nur eben keine Bilder, sondern Texte sollen es sein. Dieser Schriftsteller ist „Mr. Gwyn“ aus dem gleichnamigen Roman von Allessandro Baricco. Die Porträts, die er dann auch wirklich anfertigt, haben einen ganz besonderen Zauber und das liegt an einem speziellen literarischen Effekt. Kannst du dir schon denken, an welchem? Genau! Die Porträtierten werden zerlegt in mehrere Figuren und Gebäude, Landschaften und Situationen. Sie werden geradezu aufgelöst. Lesen sie dann ihre Porträts finden sie sich in ALLEM wieder. Wie durch Zauberei finden sie so wieder zu sich selbst, der Protagonist nennt es „nach Hause kommen“.

Fast hat man das Gefühl, Baricco würde auf Ferrantes Idee noch einen drauf setzen, indem er aus einer Figur einfach ganz Vieles macht. Interessanter Weise lässt er seinen Protagonisten als Kopisten dann irgendwann scheitern und doch wieder Romane schreiben, was er ja eigentlich nicht mehr wollte. In diese Romane verwebt er einige seiner Porträts. Er schreibt also ganze Erzähltexte aus diesen multiplen Figuren-Einheiten. Einen dieser Texte aus seiner Fiktion hat Baricco dann auch tatsächlich noch geschrieben. Es ist die Erzählung „Drei im Morgengrauen“. In der deutschen Ausgabe von „Mr. Gwyn“ ist sie dem Roman einfach angehängt. Im Italienischen Original wurde sie später, also nach dem Roman, einzeln veröffentlicht. Jedenfalls, wenn man zuvor gerade „Mr. Gwyn“ gelesen hat, dann funktioniert das hervorragend. Man sieht in allen Figuren, allen Settings, allen Situationen plötzlich nur mehrere Facetten eines fiktiven Menschenlebens. Das ist wirklich eine sehr spannende Lesart.

Ein Phänomen der italienischen Gegenwartsliteratur?

Nun kann man sich als Literaturwissenschaftlerin ja immer nur schwer dagegen wehren, sich die Frage zu stellen, ob so ein Motiv, das einem gerade erst aufgefallen ist, wirklich neu ist. In diesem Falle habe ich mich auch gefragt, ob es sich vielleicht um ein Phänomen der italienischen Gegenwartsliteratur handelt, da beide Autoren ja Italiener sind. Ganz, ganz kurz kreuzte sogar der Gedanke durch meinen Kopf, es könnte sich bei Elena Ferrante in Wahrheit um Baricco handeln, da sein Protagonist ebenfalls (unter anderem) unter weiblichem Pseudonym schreibt. Und, Fun Fact: Tatsächlich wurde Baricco als möglicher Schriftsteller hinter dem Pseudonym „Elena Ferrante“ bereits in digitalen Autorschaftsanalysen untersucht, ebenso wie ein Kollege von ihm, Domenico Starnone, der an seiner (also Bariccos) Schreibschule unterrichtet. Aber diese Gedanken habe ich gleich wieder ziehen lassen, denn eigentlich möchte ich das gar nicht so genau wissen.

Ein umgekehrter Doppelgänger?

Was mit aber wahrscheinlicher erscheint, ist, dass wir es hier mit der Umkehr eines Motivs zu tun haben, das schon ziemlich alt ist, und zwar das Motiv des Doppelgängers. Auch beim literarischen Doppelgänger werden aus einer Figur zwei. Manchmal sehen sie gleich aus, wie z.B. in E.T.A. Hoffmanns „Elixiere des Teufels“; einem frühen deutschen Doppelgänger-Roman. Manchmal verändert die andere Persönlichkeit auch die Physiognomie der Figur, wie beim englischen Klassiker „Der seltsame Fall des Dr. Jekyll und Mr. Hyde“. In beiden Fällen ist der Doppelgänger eine andere Facette der Persönlichkeit des Protagonisten. Bei Stevenson geht es ganz klar um eine gespaltene Persönlichkeit. Bei Hoffmann ist an sich da nicht ganz so einig, aber es gibt auch hier eine solche Deutungsmöglichkeit.

Jeder ist Vielfalt

Nun ist die Auflösung zwar ähnlich, aber nicht ganz gleich. Es geht hier nicht unbedingt um kranke Persönlichkeiten, die sich abgespalten haben, weil sie böse sind. Zwar hat Ferrantes Lila etwas Dunkles an sich, aber sie ist keine Verbrecherin. Und auch bei Baricco geht es eher darum, dass in jedem Menschen viele Möglichkeiten angelegt sind. Niemand wird hier als eine einheitliche Person gedacht und nur die Anerkennung dieser Vielheit kann zu einer gewissen Ruhe führen. Zusammengehörende Figuren sehen sich hier nicht ähnlich. Bei Baricco können sie sogar unterschiedliche Gender annehmen. Und die Figuren selbst werden sich ihrer anderen Persönlichkeiten nicht bewusst. Selbst wenn Lila die Auflösung spürt, so gelangt sie noch lange nicht zu einem Bewusstsein darüber, selbst nur eine Figur in einem Roman zu sein. Und auch die Möglichkeit, dass sie mit der Protagonistin identisch sein könnte, bleibt lediglich angedeutet.

Mehr, mehr, mehr!

Vielleicht basiert die Auflösung als Motiv tatsächlich auf dem Doppelgänger-Motiv, welches sie umkehrt. Vielleicht ist es aber auch tatsächlich etwas Neues. Es scheint mir auf jeden Fall ein bemerkenswertes Phänomen zu sein. Denn erst vor Kurzem hörte ich von einem südafrikanischen Roman, in dem ebenfalls mit Namensvarianten und Lebensmöglichkeiten der Figuren gespielt wird. Und seitdem hoffe ich natürlich, dass dieser Übersetzt wird. Schließlich will ich unbedingt wissen, ob noch mehr und noch woanders auf der Welt über die Auflösung geschrieben wird.

Lesetipps zu aufgelösten Figuren

Wenn du jetzt auch Lust bekommen hast, über Figuren in Auflösung zu lesen, sind hier meine Lesetipps dazu (die Liste ist natürlich erweiterbar, also lasse mir gerne einen Kommentar da, wenn du findest, dass etwas fehlt!)

Ferrante, Elena: Meine geniale Freundin, Die Geschichte eines neuen Namens, Die Geschichte der getrennten Wege, Die Geschichte des verlorenen Kindes

Baricco, Alessandro: Mr. Gwyn

Hoffmann, E.T.A.: Die Elixiere des Teufels

Stevenson, Robert Louis: Der seltsame Fall des Dr. Jekyll und Mr. Hyde

Ruff, Matt: Ich und die anderen

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