Elena Ferrantes neapolitanische Saga Teil 1: Meine geniale Freundin
Rezensionen

Elena Ferrantes neapolitanische Saga: Ein Phänomen und ein Rätsel

Elena Ferrantes neapolitanische Saga birgt ein Rätsel und ist ein Phänomen. Ein Phänomen, weil einfach mal jede Frau, mit der man über Literatur ins Gespräch kommt – Verwandte, Freundinnen, Kolleginnen, Urlaubsbekanntschaften – sie gelesen hat oder gerade liest. Ein Rätsel ist sie, weil niemand weiß, wer sie wirklich ist. Na gut, ein paar Leute wissen es wohl. Es wurden sogar schon computerlinguistische Studien gemacht, die den wahrscheinlichsten Kandidaten ausgemacht haben. Trotzdem hält sich das Rätsel. Weil die Autorin sich nicht dazu äußert und auch nicht mehr schreiben wollen würde, wenn das Rätsel gelöst wäre. So einfach ist das. Ach ja, und natürlich ist da auch noch der Zauber ihrer neapolitanischen Saga.

Über Elena Ferrantes neapolitanische Saga

Ich bin mir fast sicher, dass ich dir gar nicht viel über den Inhalt von Elena Ferrantes neapolitanischer Saga erzählen muss. Es ist mehr als wahrscheinlich, dass du die vier Romane „meine geniale Freundin“, „die Geschichte eines neuen Namens“, „die Geschichte der getrennten Wege“ und „das verlorene Kind“ bereits gelesen hast oder es gerade tust. Falls nicht, empfehle ich dir, es unbedingt nachzuholen. Denn es ist zwar eigentlich nur die Geschichte des ganz normalen Alltags in einer ärmlichen Gegend Neapels. Es ist nur die Geschichte zweier mit überdurchschnittlicher Intelligenz begabter Freundinnen, von denen die eine es durch Bildung schafft, ihrer Herkunft zu entfliehen, die andere aber nicht.

Aber es ist eine so intensiv erzählte Geschichte, dass man sich ihr einfach nicht entziehen kann. Statt dessen gerät man immer tiefer in einen emotionalen Strudel, in dem man die Protagonistin mehr als ein Mal gerne an die Wand klatschen würde. Kurz gesagt: Es ist ein rundum herrliches Leseerlebnis!

Über Authentizität und Anonymität

Es ist noch nicht lange her, dass wir hier zusammen über Authentizität in der Literatur nachgedacht haben. Auch Elena Ferrantes neapolitanische Saga ist voll von Realismuseffekten. Der Ort Neapel, die Zeitgeschichte bzw. die politischen Verhältnisse und die realistische Erzählweise. Der größte Clou aber ist die Anonymität der Autorin. Dass sie unter Pseudonym schreibt, ihren wahren Namen nicht offenbart, lässt uns als Leser vermuten, dass ihre Geschichten wahr sind.

Elena Ferrante ist eine tolle Autorin, ein Phänomen und ein Rätsel. Denn obwohl jeder (oder zumindest jede Frau) Elena Ferrantes neapolitanische Saga gelesen zu haben scheint, weiß niemand, wer sie wirklich ist.

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Warum sollte eine wunderbare Autorin von Fiktionen sich verstecken? Schreibt aber jemand über Alltagsbrutälität, ungerechte Verhältnisse, mangelnde Gleichberechtigung sowohl für Arm und Reich als auch für Männer und Frauen und vor allem über mafiöse Strukturen, so vermuten wir Angst. Angst als Aufdeckerin ausgemacht werden zu können. Vielleicht auch Angst davor, bedroht zu werden. Und ganz bestimmt Angst um sich und diejenigen, die man liebt. Wahrscheinlich lässt uns diese Vermutung denken: „Es ist alles wahr, sie hat es wirklich erlebt!“ Und schwupps ist es wieder da, dieses Prickeln der Authentizität.

Über Sprachmacht

Aber diese Realismuseffekte sind längst noch nicht alles, was Ferrantes Romane so zauberhaft erscheinen lässt. Es fällt mir schwer, zu beschreiben, warum es so ist, aber ihre Sprache ist einfach mächtig. Zu Beginn der Lektüre dachte ich tatsächlich: Naja, so besonders ist diese Geschichte über zwei Freundinnen ja nun nicht. Vielleicht sogar etwas kitschig, vielleicht sogar etwas banal. Und doch fühlte ich mich wie gezwungen, weiter zu lesen. Nicht in atemloser Spannung, sondern wie gebannt. Elena Ferrante schafft es tatsächlich, einen mit ihrer Sprache in den Bann zu ziehen. Und ehe man sich versieht, hat man vier dicke Romane durchgelesen.

Über Frauenliteratur

Ich weiß nicht, ob es dir aufgefallen ist, aber ich habe schon gleich am Anfang erwähnt, dass ungefähr jede Frau, die ich kenne, die neapolitanische Saga gelesen hat oder gerade liest. Für die Männer in meinem Bekanntenkreis gilt das nicht. Natürlich lasse ich mich hier gerne eines besseren belehren, aber ich vermute, wir haben es hier mit Frauenliteratur zu tun. Warum ist das so? Das Thema, die Frauen-Freundschaft ist bestimmt ein Grund. Die Covergestaltung vielleicht ein anderer. Aber das reicht mir nicht als Erklärung. Statt dessen glaube ich, dass die schonungslose Offenheit über die weibliche Lebensrealität dafür sorgt, dass diese Romane hauptsächlich von Frauen gelesen werden. Die Schilderung unglücklicher Verliebtheit, die Schwierigkeiten, sich in die Mutterrolle hineinzubegeben, der familiäre und berufliche Alltag, all das steht hier im Mittelpunkt.

Ich hab ja schon gesagt, dass man die Protagonistin wirklich manchmal schütteln möchte, weil ihre Entscheidungen oft alles andere als poetisch oder sogar heroisch sind. Und von all diesen Frauenrealitäten ist die Freundschaft zur besten Freundin die intensivste, die, die am häufigsten schockiert. Denn obwohl die beiden Frauen sich so nahe stehen, dass sie nicht ohne einander leben möchten, ist da immer wieder dieser Neid, diese Missgunst, diese Rivalität. Und so sind es nicht unbedingt die politischen Themen – Ungleichheit und Korruption – die am meisten Schockpotential haben. Es ist dieses Gefühl, dass die Protagonistin und ihre Freundinnen dem nichts entgegen zu setzen haben, weil sie nicht wirklich zusammen halten. Bis die Protagonistin Lenu (sie heißt Elena wie das Pseudonym der Autorin) und ihre Freundin Lila erkennen, dass sie zusammen großartige, wirkmächtige Literatur schaffen können. Und wieder scheinen sich Fiktion und Realität verwoben zu haben.

Über Rätsel, die aufgedeckt werden wollen und solche, die man ruhen lassen sollte

Ein Rätsel in unserer digitalisierten Welt ist wohl so etwas wie ein rosafarbener Elefant. Sie sind sehr, sehr selten. Und um ehrlich zu sein, gibt es natürlich die Mittel, um aufzudecken, wer Elena Ferrante wirklich ist. Und wie ich eingangs schon sagte, gibt es bereits Studien dazu. Alles, was dazu gebraucht wurde, die wahrscheinlichste Möglichkeit auszumachen, war ihre Literatur, ein Verdacht, ein paar Vergleichstexte und die Stilometrie. Ja, tatsächlich hatte man in null-komma-nix (also fast, diese Studien können durchaus etwas länger dauern) einen Vorschlag zur Enttarnung der Autorin. Und um ganz ehrlich zu sein, als Literaturwissenschaftler*in muss man solche Studien natürlich unternehmen. Es ist schließlich der Job. Literatur wird entschlüsselt. Und es macht auch einfach Freude, bei einem solchen Clou mitwirken zu können.

Auch die Journalisten, die sie interviewt haben, das Geheimnis kennen, sind ja Wahrheitsfinder. Auch ihnen liegt es im Blut, Dinge aufzudecken. Doch Wissenschaft und Presse ist es trotz allem nicht gelungen, den Bann des Rätsels gänzlich zu brechen. Ganz anders als damals, als ein „Debütroman“ von einem Robert Galbraith erschien. Hier wurde sofort ermittelt, als die Vermutung aufkam, dass der Krimi von J.K. Rowling sein könnte. Und das war auch schnell bestätigt. Aber hier steht auch einfach mehr auf dem Spiel. Ja, ich glaube, wir fürchten hier etwas ganz anderes. Nämlich den Verlust der Magie.

Die ganze Ungewissheit über die Frage nach der Authentizität würde flöten gehen, wenn wir wüssten, wer Elena Ferrante ist. Je nachdem, wer sie ist, würde sich ihre Sprachmacht auflösen in: Ach, sie ist also bloß eine aus der Oberschicht, die gelernt hat, Worte sorgsam in eine Fiktion zu spinnen. Oder ein: Ach, sie schreibt bloß autobiografisch, hat gar keine Fantasie, ist eigentlich gar keine Literatin. Oder, wenn wir mal davon ausgehen, dass du Annahme der Digital Humanists richtig ist sogar: Oh mein Gott, sie ist ein Mann! Ich glaube, wir sind zwar eine sehr, sehr neugierige Spezies, aber diese Neugier geht uns eben nicht über den Zauber guter Geschichten. Und zu Elena Ferrantes Fiktion gehört eben auch das Geheimnis ihrer Identität. Und als Teil ihrer Geschichten ist diese unantastbar.

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