Wozu brauchen wir heute eigentlich noch einen literarischen Kanon? Und wie kann man ihn erweitern? Das und mehr erfährst du hier. #Literaturwissenschaft #Bildung #Literatur #Bücher
Kolumne

Den literarischen Kanon erweiterndes Lesen

Liest du gern Goethe, Schiller und Shakespeare? Hast du es mal mit Fanny Lewald, Lou Andreas-Salomé oder Caroline von Günderrode versucht? Ja, ich muss gestehen, ich habe lange Zeit ziemlich wenig darüber nachgedacht, warum es wichtiger sein sollte, Texte der drei erstgenannten Autoren zu lesen. Schließlich wird es schon einen Grund haben, dass sie eben zu einem bildungsbürgerlichen literarischen Kanon gehören, während die drei Schriftstellerinnen heute eher von einem kleinen Kreis von Eingeweihten gelesen werden. Aber in letzter Zeit habe ich mich verstärkt mit der Frage auseinandergesetzt, warum Texte von Autorinnen so auffallend selten in unserem Kanon landen und ich habe ein paar spannende Entdeckungen gemacht.

Was ist ein Kanon und inwiefern kann er uns etwas bringen

Aber wie immer gehen wir erst einmal zurück zu der Frage, was ein Kanon überhaupt ist. Wie so oft gibt es dafür mehrere Verständnisweisen. In einem engeren Sinne ist ein Kanon eine Art Fundus für Allgemeinbildung. Im Kanon landen Bücher, die man gelesen haben sollte, Filme, die man geschaut haben sollte, wenn man als gebildet gelten möchte. Aber wie kommen diese kulturellen Gegenstände in den Kanon hinein? Auch hier gibt es mehrer Wege. Aber alle haben gemeinsam, dass sie eng mit sogenannten „Gatekeepern“ verknüpft sind. Das sind Autoritäten aus der kulturellen Sparte, zu dem der kanonisierte Gegenstand gehört. Verleger, Herausgeber, Kritiker und Wissenschaftler sind einige dieser Gatekeeper. Sie sorgen dafür, dass nur Gegenstände kanonisiert werden, die sie für qualitativ wertvoll halten.

Aber ein Kanon kann auch ganz anders gebildet werden. Ein Kanon kann auch entstehen, indem diskursiv festgelegt wird, was für eine Gesellschaft kulturell wertvoll ist. Dann hätte jeder mitzureden und nicht nur Expertenmeinungen würden dabei zählen. Ein wahrhaft demokratisches Verständnis von Kanon?
Nicht unbedingt, denn leider sind Einzelmeinungen nicht unbeeinflusst von äußeren Einflüssen. In der Literatur spielt z.B. der Literaturbetrieb eine große Rolle. Im besten Falle empfiehlt dir die Buchhändlerin deines Vertrauens deine nächste Lektüre. Aber auch Bestseller-Listen, Literaturpreise und letztendlich auch so etwas wie Titel- und Covergestaltung spielen eine Rolle. Trotzdem scheint mir persönlich aber ein diskursiver Kanon-Begriff immernoch besser als ein normativer.

Warum Du den literarischen Kanon für Dich nutzen kannst

Vor allem wenn Du jung bist, z.B. dein Literaturstudium gerade erst begonnen hast oder gerade in Deiner Buchhandelslehre steckst, kannst Du den literarischen Kanon durchaus für Dich nutzen. Bücher wie Reclams kommentierte Leseliste können dir einen Weg durch den Dschungel der Literatur zeigen, wenn Du ihn selbst vor lauter Bäumen nicht siehst. Gerade, wenn Du Dich wappnen möchtest gegen Kommentare wie „WAS, Du hast xyz nicht gelesen?“ kannst Du prima auf den literarischen Kanon zurück greifen. Er ist Deine sichere Bank.

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Und warum du dort nicht stehen bleiben solltest

Früher oder später solltest du aber Deinen eigenen literarischen Geschmack entwickeln. Das geht kaum, wenn Du Dich immer nur an das hältst, was andere Dir auf die Leseliste schreiben. Ich persönlich habe irgendwann aufgehört, Titel aus Reclams Leseliste abzuhaken und statt dessen angefangen, Bücher zu notieren, die ich durchgelesen habe. Witziger Weise sind viele davon inzwischen vergessen und wenn ich diese Liste aufschlage, staune ich oft, dass ich mich so gar nicht an manche Bücher erinnere, die ich gelesen habe. Aber andere bleiben ganz von selbst in Erinnerung. Sie formen also fast schon selbst eine Art persönlichen Kanon.

Was derzeit kanonisiert ist

Aber was ist überhaupt drinnen in unserem wie auch immer gearteten Kanon? Goethe, Schiller und Shakespeare habe ich ja schon erwähnt. Andere Klassiker wie Hölderlin werden auch zum Kanon gezählt. Thomas Mann ist drin und Kafka auch. Günther Grass und Martin Walser auch, um auch mal ein paar “jüngere” zu nennen. Du merkst, worauf ich hinaus will. Nur selten sind nämlich Texte von Frauen kanonisiert. Annette von Droste-Hülshoff ist es wohl (ausgerechnet die) und ein paar Namen fallen einem vielleicht noch dazu ein. Aber es sind niemals so viele Schriftstellerinnen wie Schriftsteller.

Nun war ich selbst lange der Ansicht, dass man ein Buch nicht lesen sollte, nur weil es von einer Frau geschrieben wurde. Tatsächlich ist es mir bei zeitgenössischen Autor*innen auch meist egal. Hauptsache das Thema interessiert mich. Aber – Hand aufs Herz – kanonisierte Bücher lesen wir ja nicht, weil uns das Thema so anspricht. Oder weil wir nach der ersten Seite nicht mehr aufhören können. Den ersten Goethe, Schiller, Kafka oder Mann lesen wir meistens, weil sie eben im literarischen Kanon sind. Günderrode, Meisenbug, Lewald oder Andreas-Salomé lesen wir, da sie eben nicht im Kanon verankert sind, einfach nicht. Und das ist der Anfang des Problems.

Wozu brauchen wir heute eigentlich noch einen literarischen Kanon? Und wie kann man ihn erweitern?  Das und mehr erfährst du hier. #Literaturwissenschaft #Wissenschaft #Bildung #Studium

In welche Richtung kann man den literarischen Kanon erweitern?

Es gab eine wunderbare Aktion vom Nacht und Tag Blog, bei der sich auf Instagram und Twitter sehr viele Literatur-Interessierte beteiligt haben. Diese Aktion hieß #Autorinnenschuber und es geht im Groben darum, zu zeigen welche Werke von Autorinnen man in einen Schuber mit auserlesenen literarischen Werken packen würde (mehr zum genauen Anlass erfahrt ihr hier auf dem Nacht und Tag Blog). Jetzt ist eine erste Auswertung der Aktion da und ich muss sagen, sie hat mich ordentlich ins Grübeln gebracht. Dabei ist mir eigentlich nur ein Detail besonders ins Auge gefallen. Dieses Detail betrifft Elena Ferrante.

Der besondere Fall der Elena Ferrante

Dieser Autorenname ist nämlich unter den besonders häufig erwähnten. Nun handelt es sich dabei zwar um ein weibliches Pseudonym, aber eigentlich weiß niemand definitiv, wer die neapolitanische Saga geschrieben hat. In der Tat belegen stilometrische Analysen, dass es sehr wahrscheinlich ist, dass sich hinter dem Pseudonym ein Mann verbirgt. Und nun? Raus aus dem Schuber mit ihm?

Moment, nicht so schnell. Denn wie wichtig kann uns als Literaturmenschen eigentlich eine Gender-Zuschreibung sein? Noch dazu eine auf Ebene der Autorenpersönlichkeit? Für mich persönlich ist diese Kategorie eigentlich denkbar uninteressant. Und trotzdem komme ich nicht umhin, mich immer wieder damit zu beschäftigen. Denn eigentlich geht es nicht um Autorengender, sondern es geht um Stimmen und darum, dass sie gehört werden können. Auf dieser Ebene wird es dann sehr wohl interessant. Denn natürlich scheinen Frauen zuerst einmal prädestiniert dafür, weibliche Stimmen in die Literatur zu bringen. Aber es würde nun wahrlich zu kurz greifen, zu behaupten, sie wären die einzigen auf der Welt, die das könnten. Du siehst, worauf ich hinaus möchte? Nun, Mann oder nicht (es besteht übrigens auch der begründete Verdacht „Elena Ferrante“ könnte ein weiblich/männliches Autorenduo sein), Elena Ferrante hat es verdient, in einem #Autorinnenschuber zu sein, weil hier eine weibliche Stimme in die Literatur gebracht wird.  

Also. Mehr Frauen in den Kanon, was noch?

Auf dem Nacht und Tag Blog wurde aber auch noch Folgendes angesprochen: Ein #Autorinnenschuber deckt nur eine Facette der Lückenhaftigkeit unseres literarischen Kanons ab. Denn weibliche Stimmen sind wahrlich nicht die einzigen, die in unserem literarischen Kanon rar sind. Noch seltener sind z.B. jüdische oder migrantische Stimmen. Und so gut wie gar nicht vorhanden sind Texte, die Genderdiversität zeigen. Das merkt man aber erst, wenn man sich – mal mehr mal weniger zufällig – selbst mit Autor*innen jenseits des literarischen Kanons beschäftigt. Abgesehen davon, merkt man auch erst dann, was man eigentlich alles verpasst hat. Und darum sollte man auf jeden Fall Kanon erweiterndes Lesen betreiben.

Die Digital-Humanities-Perspektive auf den literarischen Kanon

Was bedeutet nun aber die ganze Debatte für die Digital Humanities, mit denen ich mich ja so gerne beschäftige? Nun, es ist denkbar banal. Mit unseren digitalen Methoden analysieren wir meistens digitalisierte Volltexte. Hast du dich schon einmal an den Scanner gestellt und ein ganzes Buch eingescannt, dass du dann später mit Hilfe von OCR maschinenlesbar gemacht und dann die Fehler darin korrigiert hast? Selbst wenn nicht, kannst du dir sicher vorstellen, wie lange das in etwa dauert und dass das nicht die spannendste Aufgabe ist.

Der literarische Kanon in den Digital Humanities

Also ist es doch sehr verlockend auf das zurückzugreifen, was bereits digitalisiert wurde. Was wird häufig als erstes digitalisiert? Richtig, der Kanon. Aus pragmatischen Gründen beschäftigen wir uns also häufig doch wieder mit kanonisierten Texten.Die Gefahr besteht nu darin, beim Entwerfen, Adaptieren oder Testen von Modellen wieder hauptsächlich die Phänomene zu berücksichtigen, die eben im Kanon vorkommen. Denn dazu bedarf es vielfach Traningsmaterialien, die oft auch wieder aus kanonisierten Beständen kommen.

Warum Modelle, die auf dem Kanon basieren, diesen ewig reproduzieren

Nochmal wieder am Beispiel der Genderfrage klargemacht bedeutet das, dass die Modelle wieder hauptsächlich auf der Basis von Texten, in der männliche Stimmen dominant sind, erstellt werden. Ganz konkret bedeutet das, dass in einem Projekt, in dem literarische Figuren und deren Genderzuschreibung automatisch erkannt werden soll, wieder hauptsächlich Beschreibungsmuster männlicher Stimmen maßgeblich sind. Übrigens ist das eine Aufgabe, an deren Lösung ich mit dem m*w-Projekt gerade sitze. Aber zum Glück gibt es bereits einige Projekte und Initiativen, die auch weniger stark oder gar nicht kanonisierte Texte in ihre (digitale) Arbeit einbeziehen.

Wo findest du Texte, die deinen Kanon erweitern können?

Dazu gehört zum Beispiel das Textgrid-Repository, in dem vergleichsweise viele Texte von Autorinnen und auch von jüdischen Schriftsteler*innen zu finden sind. Auch im Gutenberg-Projekt des Spiegels finden sich viele, viele Texte von Frauen. Das gesamte Archiv kannst du dir übrigens für eine relativ geringe Aufwandspauschale auf USB-Stick bestellen. Inzwischen sind dort schon 10.000 Volltexte im html-Format drin.

An dieser Stelle möchte ich aber noch einen kleinen Apell in eigener Sache aussprechen. Denn ich möchte gerne eine Textsammlung zusammenstellen, in der Texte sind, in denen Figuren eine Rolle spielen, die man als genderdivers bezeichnen kann. Ein Teil dieses „Diversitätskorpus“ soll eine Volltext-Sammlung werden, in der Texte erfasst sind, die gemeinfrei sind. Ihre Autor*innen müssen also über 70 Jahre tot sein. Der zweite Teil umfasst eine Titelsammlung. Hier werden alle Texte von Autor*innen gelistet, deren Texte noch nicht gemeinfrei sind. Wenn du also Texte kennst, in denen Gender-Diversity eine Rolle spielt, bitte hinterlass mir einen Kommentar oder schick‘ mir einfach eine Mail. Die Aufgabe, die ich mir gestellt habe, ist groß und ich weiß, dass sie allein nicht zu bewältigen ist.

Den literarischen Kanon endlich erweitern

Also, warum machen wir uns nicht an die Arbeit, lesen Dinge abseits vom Kanon und erschaffen uns so ganz en passant einen neuen? Nun, ganz so einfach ist das leider nicht. Zwar ist es wichtig, einfach für sich und die persönliche Horizonterweiterung, Bücher zu lesen, die nicht im Kanon sind. Aber dadurch bildet sich noch kein neuer. Denn wir haben sie ja immer noch, die Gatekeeper, die ich anfangs erwähnte. Und die möchten ihre Rolle nicht so einfach aufgeben und ihre Stimmen sind laut. Es nützt also nichts, man kann nicht einfach nur kanonerweiternd lesen, man muss auch darüber sprechen und – nach Möglichkeit – auch Gehör finden. Darum sind Aktionen wie #Autorinnenschuber so wichtig.

Denn ein Glück unserer Zeit ist, dass zumindest die Gatekeeper-Institutionen wie z.B. Verlage heute die Macht der sozialen Medien erkannt haben. Wenn dort also eine Aktion so viel Wirbel macht wie diese, so werden sie sie vielleicht aufgreifen, für sich nutzen und damit schließlich auch eure Proteste ernst nehmen und darauf reagieren. Nutzen wir ihn also einfach auch für uns, den Diskurs in den sozialen Medien. Sprechen wir auf Instagram oder Twitter oder im Blog über die Notwendigkeit, bestimmte Autor*innen in den Kanon aufzunehmen und erstellen wir Korpora, an denen auch digital geforscht werden kann. Vielleicht kommen wir dann irgendwann zu einem wahrhaft diskursiven Kanon im besten Sinne des Wortes. Wer ist dabei?

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