Dystopien und wie sie nicht sein sollten
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Es gibt Vorsätze, die sind wohl von Vornherein zum Scheitern verurteilt. Zum Beispiel habe ich mir mal festgenommen, auf diesem BlogBlog ist kurz für Web-Log und steht für ein online Publikationsformat. Man kann sowohl der als auch das Blog sagen. Es gibt Blogs aller Sparten, von Linklisten über Tagebuchartige Formate bis hin zu wissenschaftlichen Blogs. Die Veröffentlichung kann schnell und unkompliziert erfolgen oder redaktionellen Standards entsprechen. In den Geisteswissenschaften etablieren sich Blogs zunehmend als Alternative zur langwierigeren wissenschaftlichen Publikation. Lebe lieber literarisch ist ein populärwissenschaftlicher Literaturblog. Kurze Podcast-Folge zum Blog-Begriff: https://hnp9zs.podcaster.de/download/Podcast_Blog(1).mp3 More von Literatur nur in Positivbeispielen zu sprechen. Keine Verrisse! Kein Nörgeln am Literaturbetrieb! Kein Ruf nach der Qualitätspolizei namens „Gatekeeper“ (und ja, als gelernte Buchhändlerin weiß ich schon, dass man mich irgendwie dazu rechnen könnte)! Tja, was soll ich sagen, ich scheitere an meiner eigenen Selbstverpflichtung. Denn ich habe vor kurzem wieder eine Dystopie gelesen, die mir so gar nicht gefallen hat. Und nun muss ich einfach mit euch darüber nachdenken, warum das Genre der Dystopien so anfällig für Fehlversuche ist.
Dystopien, was sind das überhaupt?
Zunächst einmal bezeichnet der Begriff Dystopie wohl erstmal nichts anderes als ein Gegenstück zur Utopie. Ist letztere ein Gesellschaftsentwurf, der eine gewisse Idealvorstellung beinhaltet, so ist die Dystopie ein Negativbild. Ich persönlich mag eigentlich den Utopie-Begriff von Foucault besonders gern, denn er bezeichnet damit nicht unbedingt ein normatives Ideal, sondern einfach eine Vorstellung von einer Welt, in der andere Dinge möglich sind als in der tatsächlichen Gesellschaft. Er entwickelt diese Vorstellung übrigens gemeinsam mit der von Heterotopien, was für ihn an bestimmten, abgegrenzten Orten verwirklichte Utopien sind. Dazu gehören Jahrmärkte und Gärten ebenso wie Psychiatrische Anstalten.
Du merkst schon, worauf ich hinaus will. In diesem System ist nicht unbedingt Platz für einen Begriff wie „Dystopie“. Denn irgendwie ist dieser Begriff der schwarze Teil eines schwarz-weiß Bildes (von dem die Utopie der weiße Teil ist). In Utopien ist also alles gut und in Dystopien ist alles schlecht. Hm, wahrscheinlich liegt hier bereits der Grundstein meines Misstrauens gegenüber diesem Genre, denn das ist doch alles ganz schön normativ, irgendwie. Und während das Heuti-Teuti-Tralala einer Utopie in meinen Augen noch ganz lustig und auf jeden Fall leicht erträglich daher kommen kann, hat es das Gegenteil schon schwerer.
Warum kann beim Schreiben von Dystopien so viel schief gehen?
Es ist ein schmaler Grad. Sowohl zwischen Bitterkeit und Verbitterung als auch zwischen Emotion und Pathos oder Gesellschaftskritik und Kritik an der Menschheit als solche. Und obwohl ich selbst ja keine Schriftstellerin bin und es also nie versucht hab, stelle ich es mir irre schwierig vor beim Schreiben einer Dystopie nicht zu verrutschen. Als Leser merkt man es aber sofort, wenn eine Formulierung gar zu pathetisch geworden ist und einem die Geschichte sofort ein bisschen weniger ergreift. Vielleicht sogar nervig wird. Mir ging das zuletzt so bei der „Geschichte des Wassers“ von Maja Lunde.
So nicht!
Diese Erfahrung war ehrlich gesagt auch der Anlass für diesen Artikel, denn beim Lesen dachte ich immer wieder: „nee, so nich‘! So echt nich‘!“ Denn es geht hier zwar um ein hochbrisantes Thema – den Klimawandel und die möglichen Folgen, aber das Ganze ist mit so viel Pathos getränkt, dass es einen sehr schnell so gar nicht mehr berührt. Dabei versucht die Autorin schon, alle Register zu ziehen. Sie zieht zwei Erzählstränge auf, einen in der jetzigen Zeit, einen in ferner Zukunft. Sie sucht sich eine verschrobene Heldin, die Klimaaktivistin ist und sympathisch sein könnte, wenn sie nicht so pathetisch wäre. Und im anderen Erzählstrang wartet sie mit einem Vater auf, der bei einem von der Trockenheit bedingten Feuer seine Frau und sein Baby verlor. Jetzt sucht er mit seiner größeren Tochter verzweifelt nach den beiden. Geht von einem Flüchtlingscamp ins nächste. Ich meine, wie herzzerreißend ist das denn bitte?
Leider gar nicht, denn der Schreibstil ist auch hier zu pathetisch, zu gewollt. Statt einen aufzurütteln, vermittelt einem das Buch den Eindruck, dass Klimaaktivistin doch etwas allzu schwarz-seherische pathetische Weirdoes seien. Also so ungefähr das genaue Gegenteil von dem, was es vermitteln sollte.
Wäre das jetzt das erste Mal gewesen, dass mir eine Dystopie beim Lesen so einen negativen Beigeschmack hinterlassen hat, hätte ich das Versprechen, hier nur über Positivbeispiele der Literatur zu schreiben wohl nicht gebrochen. Aber irgendwie haben dieses Genre und ich schon öfter Pech gehabt. Zum Beispiel hat mir „The Circle“ auch nur so mittelgut gefallen, obwohl es spannend geschrieben war und die Grundidee gut war. Am Ende gab es dann doch irgendwie wieder zu viel Pathos darin. Ja, Dystopien sind für mich mittlerweile ein so dermaßen rotes Tuch, dass ich sogar „Quality Land“ verschmäht habe, obwohl es von meinem absoluten No. 1 Lieblingsautor Marc-Uwe Kling verfasst wurde…
Sybille Bergs neuesten Roman „GRM“ habe ich nach wenigen Seiten abgebrochen, weil der Ton mir viel, viel zu aggressiv war. Dabei mag ich ihren Stil ansonsten sehr gerne. Aber diese dystopische Energiedichte, die jedes Wort zu einer Anklage macht, war mir nicht erträglich. Da bekommt man ja als Leser das Gefühl, erst einmal viele Schichten Wut abschälen zu müssen, bis man endlich beim (dann vielleicht auch noch ernüchternden) Kern angelangt ist.
So wird ein Schuh draus!
Dabei habe ich auch schon mal eine richtig gute Dystopien gelesen bzw. als Hörbuch gehört. „Die Straße“ von Cormac McCarthy ist so eine hammergute Dystopie. Düster bis zum Letzten und dabei kein bisschen „früher-war-doch-alles-besser“-Konservativismus. Einfach ein richtig guter Apokalypsen-Roman über einen Vater und seinen Sohn, die in einer ausgebrannten Welt leben, in der jeder gegen jeden in bitterster Nahrungskonkurrenz steht. Das Ganze kommt mit ganz unprätentiöser, schlichter Sprache aus. Klasse!
Auch den dystopischen Kriminalroman „Vaterland“ von Robert Harris fand‘ ich gelungen. Hier steht ein Gedankenexperiment im Vordergrund, bei dem der Autor eine mögliche Welt anlegt, in der Hitler den 2. Weltkrieg gewonnen hat. Vor diesem Hintergrund erzählt er eine Kriminalgeschichte, in der die totalitären Strukturen eine solche Enge verursachen, dass man beim Lesen einfach beklommen werden muss. Ohne dass das Ganze eine ständig anklagende Sprache bräuchte.
Naja, ein paar dystopische Klassiker kenne ich natürlich auch. Den Herrn der Fliegen fand ich z.B. eine durchaus anregende Schullektüre damals. Andere Klassiker wie Orwells „Animal Farm“ oder, wenn man es als Dystopie bezeichnen möchte, „Die Pest“ von Camus habe ich ebenfalls gerne gelesen. Ein Roman, bei dem man sich nie ganz sicher ist, ob es sich nun um eine U- oder eine Dystopie handelt, ist José Saramagos „Zeit ohne Tod“ (darum habe ich Saramago auch einst in meine Liste der 10 besten Nobelpreisträger aufgenommen). Dieses Buch ist in meinen Augen nun wirklich eines der genialsten, weil es ein einfaches Gedankenspiel (wie wäre ein Leben ohne Tod) in eine richtig gute Geschichte verpackt, die überraschend wenig düster ist. Ja, dieses Buch schafft es sogar, richtig humorvoll zu sein.
Eine 50:50 Chance oder warum ich so selten Dystopien lese
Du merkst also, wenn ich eine Dystopie in die Hand nehme, so habe ich in etwa eine 50:50 Chance, dass ich sie gut finden werde. Das ist nicht mehr als eine Zufallswahrscheinlichkeit. Alles, was nicht klar, schlicht, ohne Bitterkeit, Rückwärtsgewandheit oder Pathos auskommt, kann einfach nicht bestehen. Und doch habe ich derzeit wieder eine Dystopie auf meinem Stapel ungelesener Bücher ganz oben liegen. Es ist “Der Bericht der Magd” von Atwood. Ob sie wohl zu den Guten gehört?
Wie sieht es bei dir aus, ist die Dystopie DEIN Genre? Oder auch so ein 50/50 Spiel wie bei mir?
2 Kommentare
Paul Steinbeck
Liebe Mareike,
selten so gerne einen Text gelesen und immer wieder gefragt, „wie siehst du das selbst?“ Mir selbst fällt es immer schwer, in Kategorien zu denken und zu schreiben. Wenn ich ein Thema anpacke, dann will ich mich intensiv mit einem Gedanken beschäftigen, der sich als roter Faden durch das Buch zieht. Zum Beispiel mit der Frage der Macht und der Gier der Menschen danach. Ich will wissen, wie sich das in der Zukunft entwickelt und zu welchen Auswüchsen das führt. Ich möchte erleben, wie die Menschen damit umgehen und wie es ihr Leben beeinflusst. Erst meine Lektorin und einer meiner Verlage kamen später dann dazu, das Etikett „Dystopie“ dran zu heften. Mir persönlich behagt es nicht, solche Kategorien anzuwenden. So nenne ich meine Trilogie schlichtweg „Paul-Reimer-Saga“.
Viele Grüße,
Paul
Mareike K Schumacher
Lieber Paul,
das freut mich natürlich sehr! Stimmt, du sprichst hier natürlich einen ganz wichtigen Punkt an, dass man sich ja nicht immer vornimmt eine Dystopie zu schreiben. Vielleicht liegt hier auch ein weiterer Unterschied zwischen den guten und den weniger gelungenen Beispielen. Wenn die Geschichte einfach nur um ihrer selbst Willen geschrieben wird, gelingt sie vielleicht auch besser und wirkt authentischer, weniger erzwungen.
Viele herzliche Grüße,
Mareike