Lou Andreas-Salomé wird gern als Muse bezeichnet. Aber erkennst du in dieser Frau eine Muse? Warum bezeichnet man überhaupt jemanden als Muse? Diese und andere Fragen stelle ich mir in dieser Literatur-Kolumne. #Literaturwissenschaft #DigitalHumanities #Gender
Kolumne

Literatur-Kolume: Das Drama mit der Muse

Ich liebe die Bücher von Michaela Karl. Kennst du sie? Wundervolle Biografien, meistens über unabhängige Frauen oder ungewöhnliche Paare. Allesamt aus dem englischsprachigen Raum, oft lebten sie in den 1920er oder 30er Jahren. Und als ich so das letzte Buch von ihr las, dachte ich darüber nach, warum es den Michaela-Karl-Frauen-Biografie-Typ bei uns so selten gibt oder warum sie selten über europäische Frauen schreibt. Ich glaube, der Grund dafür könnte in unserer Musen-Kultur liegen. Denn während amerikanische Frauen gern als Ikonen dargestellt werden, lieben wir die Muse. Sie haben nur einen Haken. Sie sind nicht unabhängig. Trotzdem oder gerade darum werden sie verehrt, es werden massenweise Bücher über sie verfasst und gelesen. Aber einer gleichberechtigten Gesellschaft spielt das nicht gerade in die Hände. Warum? Ein Beispiel:

Zwei Leben, eine Muse

Ein junger Mensch, künstlerisch sehr begabt, hat bereits einige surrealistische Fotografien herausgebracht, lebt allein, erfolgreich unabhängig. Dann begegnet diese Person einer verhängnisvollen Liebe. Der andere Mensch ist auch Künstler. Die Liebe ist ungleich verteilt. Einer möchte mehr als der andere. Die erstgenannte Person zerbricht. Die Liebe auch. Ein Ende in Einsamkeit und psychischen Problemen. Zumindest für einen der beiden.

Noch ein Schicksal: Ein junger Mensch, in der Philosophie bereits sehr anerkannt, lebt allein, erfolgreich und unabhängig. Dann begegnet diese Person einer verhängnisvollen Liebe. Der andere Mensch ist auch Philosoph. Die Liebe ist ungleich verteilt. Einer möchte mehr als der andere. Die Liebe zerbricht. Die Person, deren Liebe stärker war wird immer zynischer, schreibt harte, teilweise böse Texte. Am Ende verfällt sie dem Wahnsinn.

Musen sind schön, inspirierend und häufig berühmt. Warum wir Musen so verehren und warum wir unser Bild von ihnen vielleicht noch einmal überdenken sollten, darüber sprechen wir in dieser Kolumne. Natürlich mit Podcast. #DigitalHumanities #Gender #Litwiss

Who is who?

Aus dieser zugegeben verkürzten Darstellung kann man nicht sofort herauslesen, welche*r der beiden unglücklichen Liebenden heute als Genie verehrt und wer nur noch als Muse bekannt ist. Wenn ich aber sage, dass in der ersten Geschichte Dora Maar Protagonistin ist und in der zweiten Nietzsche, so ist es jedem klar. Aber woran liegt das? Ist es eine Gender-Frage? Liegt es daran, dass Dora Maar ihre Kunst frühzeitiger aufgegeben hat? Oder darf ein überragendes Genie einfach nicht auch Muse anderer sein?

Das Problem mit den Musen

Ich hab es schon angedeutet, Musen stehen einfach nicht für sich. Dora Maar ist heute hauptsächlich bekannt für ihre unglückliche Liebe zu Picasso. Nietzsche hat auch unglücklich geliebt und zwar die Philosophin und Psychoanalytikerin Lou Andreas-Salomé. Nun ist es natürlich leicht zu sagen, sie wäre eben kein Picasso gewesen und Nietzsche selbst ein Genie. Aber irgendwo im Hinterkopf bleibt doch eine nagende, leise Stimme, die fragt, ob Lou nicht heute als Genie bekannt wäre, wenn sie nur ein Mann gewesen wäre. Immerhin hat ihr Lebenswandel doch ein paar picassohafte Züge. Ihr erste große Liebe traf sie noch als Schülerin. Ein verheirateter Mann, der seine Familie für sie verlassen wollte. Erschreckt von dieser Ernsthaftigkeit, beendete sie die Beziehung.

Später lernte sie den Philosophen Paul Rée kennen. Sie verstanden sich prächtig, vor allem intellektuell. Er verliebte sich in sie, machte ihr einen Heiratsantrag. Sie lehnte ab und zog statt dessen mit ihm in eine WG. Durch Rée lernte sie Nietzsche kennen. Eine neue Liebe, ein neuer Heiratsantrag, eine neue Ablehnung. Man munkelt, es habe trotz allem eine Ménage à trois gegeben, eine Amour fou. Doch auch dieses Arrangement zerbrach. Nietzsche verließ die Dreisamkeit. Aber Lou und Paul sind sich sicher, dass sie für immer zusammensein wollen. Darum kann Lou es auch schlichtweg nicht verstehen, dass Paul verschwindet als sie sich mit einem anderen verlobt. Ach und dann war da ja noch der junge Rilke. Wieder eine neue Liebe. Diesmal von einem jungen Mann, der der 15 Jahre älteren Frau geradezu verfällt.

Die Literatur über die Muse, eine eigenes Genre?

Ich hab ja vor nicht allzu langer Zeit hier über eine herrliche Musen-Biografie geschrieben; “Dora und der Minotaurus” von Slavenka Draculic. Und schon in meiner Rezension sagte ich, dass mir aufgefallen ist, wie unendlich viele Musen-Bücher es gibt. Fast wie ein eigenes Genre. Ob nun Mme Hemmingway, Dora Maar oder andere Frauen an der Seite berühmter Männer. Ihre Schicksale scheinen sich zu gleichen. Und wir scheinen supergern von diesen Schicksalen zu lesen. Warum? Warum wollen wir etwas über das Genie erfahren, indem wir über Frauen lesen, die ihm nahe standen. Und warum lesen wir nicht einfach Biografien über Genies? Und warum machen wir unabhängige, intellektuelle Frauen wie Lou so gerne zu Musen? Ich habe keine Antwort dafür, aber ich habe etwas anderes entdeckt.

Nicht gerade musenhaft, Frau Salomé!

Als ich nämlich letzte Woche beim Coding Gender Hackathon von der Staatsbibliothek Berlin war, habe ich mich mit meiner Gruppe etwas genauer mit Lou Andreas-Salomé beschäftigt. Ich habe einige Briefe von ihr und an sie gelesen. Wir haben herausgefunden, was sie so gelesen hat und mit wem sie so alles in Austausch stand. Vor allem aber habe ich Ähnlichkeitsanalysen von ihren Texten und Texten ihrer Freunde gemacht. Und siehe da, es hat sich gezeigt, dass Lous Schreibstil, den sie für Sachtexte nutzt, dem der frühen Nietzsche-Texte nahe kommt. Ihr Erzählstil ähnelt dagegen dem von Rilke. Nun habe ich beim Hackathon nicht genug Zeit gehabt, um dem genauer nachzugehen, wir hatten nur zwei Tage. Und vor allem in Sachtexten zitiert man ja auch viel. Aber mir scheint doch, dass Lou sich von ihren Liebhabern schon stark inspirieren ließ. Das ist nicht mehr als eine Ahnung, aber definitiv etwas, worüber ich in einer Fallstudie hier noch einmal genauer zurück kommen werde.

Warum es so wenig männliche Musen „gibt“

Da es ja wie erwähnt ein Hackathon zum Thema Gender war, ist mir natürlich noch etwas anderes aufgefallen. Musen sind fast immer weiblich. Hin und wieder wird zwar auch mal der Ehemann einer Malerin so benannt. Und definitiv schreckt man nicht davor zurück den ein oder anderen von Karl Lagerfelds Male Models so zu nennen. Aber das entspricht ja auch ziemlich genau dem, was in frühen feministischen Texten festgestellt und ganz zu Recht kritisiert wurde, nämlich, dass die Frau und auch der homosexuelle Mann als untergeordnet wahrgenommen wurden. Sie sollten männlich dominierten Vorgaben folgen und ihre Stellung war niedrig. Die des Homosexuellen noch niedriger als die der Frau. Das Bild der Muse folgt dieser Art Dominanzverhältnis. Die Muse steht in emotionaler Abhängigkeit und gleichzeitig kommt sie dem Genie so nahe wie nur möglich. Jedenfalls wenn man selbst keines ist. Nur dass Lou sich offensichtlich nicht in dieses Dominanzverhältnis fügte und selbst von großer schöpferischer Kraft war.

Ikonen statt Musen!

Mir liegt in Wahrheit nichts daran, Nietzsche zur Muse zu degradieren. Er war ohne Zweifel ein großer Philosoph. Mir liegt aber viel daran, Frauen wie Lou ihre eigene, unabhängige Existenz zuzusprechen. Und ich würde mir wünschen, dass sie in Biografien, fiktiven wie realistischen, so dargestellt würden, wie Michaela Karl ihre Protagonistinnen zeigt; als unabhängige, starke und selbstbestimmte Ikonen. Auch damit man Vorbilder haben kann, die zeigen, dass man nicht durch andere so nah an das Genie herankommt wie möglich, sondern indem man das eigene Talent auslebt. Und ich verspreche euch hiermit, wir werden auf diesem Blog noch weiter über Lou Andreas-Salomé sprechen!

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