Franco Moretti: Distant Reading - Kommentar zu einem der einflussreichsten Werke der digitalen Literaturwissenschaften. #DigitalHumanities #Buecher #DistantReading
Rezensionen

Franco Moretti „Distant Reading“ – ein Lektüre-Kommentar

Wenn es einen Nobelpreis für Literaturwissenschaftler*innen gäbe, so hätte Franco Moretti ihn schon allein dafür verdient, den Begriff des „Distant Reading“ geprägt zu haben. Doch obwohl dies in meinen Augen einer der innovativsten methodischen Ansätze ist, den die Literaturwissenschaft im Moment vorzuweisen hat, zeigt Moretti auch, dass hier gerade die ersten Gehversuche in einem Feld gemacht werden, das noch nicht klar konturiert ist. In seinem Buch „Distant Reading“ hat er all die Aufsätze zusammengestellt, die zur Prägung des Begriffes führten und die für die digitalen Geisteswissenschaften ausgesprochen prägend sind. Damit gelingt es ihm gleichzeitig, seine Leser zu begeistern und zum kritischen Überprüfen der Methode anzuregen.

„Es wird nichts nützen, immer mehr zu lesen“

Laut der Einleitung, die Moretti als editorische Notiz seinem Aufsatz „Conjectures on World Literature“ vorangestellt hat,  hatte er mit diesem Satz zunächst nur eine provokative Überspitzung im Sinn. Heute ist er einer der Grundpfeiler des Distant Reading-Ansatzes. Unabhängig davon, wie viel wir lesen, die Masse des Ungelesenen wird immer größer bleiben. Unabhängig davon, wie genau wir einzelne Texte kennen, sie werden uns niemals einen Überblick über kulturelle Vorgänge verschaffen. Als Komparatist mahnt Moretti zu Recht dazu, das Gesamtbild mehr ins Blickfeld zu rücken. So drehen sich die meisten seiner Aufsätze darum, den Begriff der Weltliteratur wieder zu seinem Wortsinn zurückzuführen, statt nur an dem haften zu bleiben, was wir selbst (als Literaturwissenschaftler*innen) für „weltklasse“ Literatur halten.

Dabei lässt Franco Moretti sich schon manchmal von den eigenen Idealen etwas zu sehr leiten. Wenn er z.B. in seinem Aufsatz „The Slaughterhouse of Literature“ darüber raisonniert, dass nicht die Wissenschaft sondern der Leser darüber entscheide, welche Literatur überdauert, so räumt er Letzterem wohl eine etwas zu große Rolle und der Macht des Marktes vielleicht eine zu kleine Rolle ein. Denn schließlich lesen Menschen nicht selten auch einfach Bücher, die gut vermarktet werden. Wenn er von der großen Masse der ungelesenen und doch wichtigen Bücher spricht, so fehlt mir persönlich das Eingeständnis, dass auch das Vergessen eine bedeutende Kulturtechnik ist (wie Niklas Luhmann gezeigt hat). Außerdem neigt Moretti dazu, mit seinen eigenen, eurozentrischen Beispielen doch wieder Kanonisches zu reproduzieren.

Das wird vor allem dann deutlich, wenn er in „Planet Hollywood“ aufzuzeigen versucht, welchen Einfluss die amerikanische Filmindustrie weltweit hat. Hier wäre es z.B. interessant, Daten über die mindestens ebenso große und einflussreiche indische Filmproduktion zum Vergleich zu haben. So reduziert sich der titelgebende „Planet“ fast ausschließlich auf Europa.

Ein Schritt in Richtung „exakte Wissenschaft“ – die Reliabilität

Doch wirklich charmant am Ansatz von Franco Moretti ist die genuin wissenschaftliche Taktik der Offenlegung der eigenen Herangehensweise. Dadurch wird es möglich, seine Fallstudien nachzuvollziehen und seine Schlussfolgerungen zu überprüfen. Seine Datensätze zeigt er in einfachen Visualisierungen. Darin siehst du sofort, welche Parameter er betrachtet. Darüber hinaus fordert diese Vorgehensweise auch die Nachnutzung seiner Ergebnisse geradezu heraus. Bleiben wir noch kurz bei dem Beispiel der Hollywood-Filme. Hier ist z.B. in einer Kartenvisualisierung die Verteilung von Morettis Daten aufgezeigt. Der Lesende sieht sofort, welche Datensätze fehlen und könnte hier mit eigener Forschung ansetzen. So ist es plötzlich naheliegend, mit einer ähnlichen Kritik wie der meinen, selbst Daten zu ergänzen. Auf diese Weise könnten irgendwann auch die indische, die asiatische oder die afrikanische Filmproduktion zum Vergleich herangezogen werden. Wenn nur mehrere jeweils einen Teil der Forschungsarbeit übernähmen, würde bald tatsächlich ein weltweites Bild entstehen.

Die Schwierigkeiten der digital unterstützten Analyse

In „The Slaughterhouse of Literature“ wird nicht nur das Problem fehlender Datensätze offenbar, sondern es klingt auch eine Problematik an, die die gesamte contentbezogene digitale Literaturwissenschaft betrifft. Moretti untersucht hier den Zusammenhang zwischen der Verwendung von Hinweisen und der Überdauerung in der Literaturgeschichte bei Conan Doyle und in anderen Detektivromanen. Bestandteile des Corpus sind alle Sherlock Holmes Geschichten und ähnliche, heute vergessene Kriminalromane. Anhand eines hierarchischen entweder-oder Modells betrachtet Moretti zunächst das Vorhandensein, die Notwendigkeit, die Sichtbarkeit und die Dekodierbarkeit von Hinweisen in den Romanen. Es zeigt sich, dass auf der letzten Ebene nur noch Romane von Arthur Conan Doyle übrig sind. Die Dekodierbarkeit von Hinweisen ist also im wahrsten Sinne des Wortes der „Clue“ von Sherlock Holmes.

Eine exakte Wissenschaft ohne operationalisierbare Variablen?

Aber was ist eigentlich mit Dekodierbarkeit gemeint? Franco Moretti versäumt es leider, diese Frage im Rahmen einer Definition oder genaueren Beschreibung seiner Vorgehensweise zu beantworten. Ein zweiter Kritikpunkt ist in einer der zahlreichen Reaktionen enthalten, die Moretti auf seine Ideen bekommen hat und auf die er in „Distant Reading“ mal mehr mal weniger ausführlich eingeht. Der grundsätzliche Zweifel besteht an den Hinweisen als alleinigem Auslöser für die Durchsetzungskraft der Holmes-Geschichten. Leider stört Moretti sich bei diesem Kommentar etwas zu sehr an dem Beispiel, der Erfolgsfaktor könne doch auch sein, dass Sherlock Holmes ein Gentleman-Detektiv ist. Dabei versäumt er es, die grundsätzlichen Lücken der Herangehensweise zu schließen. Denn ob es sich nun um Einzelkategorien handelt oder um die Parameter der Untersuchung, es sollte doch validiert sein, warum gerade diese inhaltlichen Kriterien ausschlaggebend sein sollten und wie man diese aus dem Text extrahiert hat.

Ein Blick hinüber zu verwandten Wissenschaften

Spätestens an dieser Stelle ruft meine innere klassische Literaturwissenschaftlerin aus, dass jede argumentativ gestützte Interpretation eine gute sei! Endgültige Einigkeit und Validierbarkeit gibt es in den Kulturwissenschaften eh nicht! Ein Text ist schließlich so komplex, dass nie ganz sauber zwischen einzelnen Einflüssen getrennt werden kann. Hier lohnt wohl ein Blick in Richtung der Psychologie, die schon lange Methoden der exakten Wissenschaften und der Geisteswissenschaften verbindet. Auch hier gelingt es, Variablen so weit zu extrahieren, dass sie zumindest die Möglichkeit der Operationalisierung bieten. So können logische Zusammenhänge zwischen Ursachen und Wirkungen entdeckt werden. Was die Literaturwissenschaft noch von der Psychologie lernen kann, ist die Einführung überindividueller Experimente. Manchmal hilft es, eine Gruppe von Literaturwissenschaftler*innen zu bemühen, wenn man als Einzelforscher*in nicht weiter kommt.

In Morettis Beispiel könnte man dann ganz konkret festhalten, dass die Dekodierbarkeit zu 90% übereinstimmend zu den Ausprägungen ja und nein zugeordnet wurden. Die Zahlen habe ich natürlich frei erfunden. Schließlich gab es keine solche literaturwissenschaftliche Gruppenbewertung in Morettis Studie.

Eine gute Lektüre für solche, die bereits mögen, was „Distant Reading“ bedeutet

Wie ihr also an dieser Schein-Rezension, diesem Kommentar, ablesen könnt, schafft Morettis Buch „Distant Reading“ vor allem eines – es regt zum Selberdenken an. Gerade die Angreifbarkeit seiner ersten Versuche, die vergleichende Literaturwissenschaft mit quantitativen Methoden zu stärken, führt dazu, dass man als Lesende selbst einhaken möchte. Mehr noch, man möchte selbst ausprobieren, was Moretti vorführt. Und dann kann man von dort aus eine eigene Richtung finden.

Wenn du ein Faible für Digital Humanities hast und Franco Moretti noch nicht gelesen hast, empfehle ich dir die Lektüre wärmsten. Wer keine Schwäche für derartige Ansätze hat, wird allerdings seine Zweifel vielleicht eher bestätigt als ausgeräumt finden. Darum lieber Finger weg, wenn du zu dieser Kategorie gehörst. Dann warte lieber noch ein paar Jahre bis Distant Reading sich als allgemein anerkannte literaturwissenschaftliche Methode durchgesetzt hat.

Moretti, Franco: Distant Reading. Verso Books 2013. ISBN: 9781781680841. 21,70€.

Abonniere
Lebe lieber literarisch

Blog und Podcast

Wöchentlich News zu den Themen Literatur, Kultur, Digital Humanities und Bloggen für Geisteswissenschaftler*innen

Invalid email address
Probiere es einfach mal aus. Du kannst dich jederzeit vom Newsletter abmelden.Bevor du dich anmeldest, lies bitte sorgfältig meine Datenschutzbestimmungen!

4 Kommentare

Eine Antwort schreiben

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert