Authentizität in der Literatur oder: Das gewisse Prickeln
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Was ist Authentizität in der Literatur? Oder, genauer gefragt: Was bringt eine Schriftstellerin eigentlich dazu, einen Roman zu schreiben und dann zu behaupten, es sei gar keiner. Sie selbst sei nur die Herausgeberin von Notizen einer anderen Person, einer Person, die wirklich gelebt habe. Im heutigen Blogpost möchte ich mich dieser Frage ein bisschen hingeben. Ich werde euch mein Lieblingsbeispiel aus der Literaturgeschichte und ein paar von heute dafür geben und ich werde euch hoffentlich erklären können, warum Authentizitätseffekte in meinen Augen einfach ein gewisses Prickeln bei uns Lesern auslösen.
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Die Aura des Originals
Gibt es sie nun oder gibt es sie nicht, die Aura des Originals, die Walter Benjamin schon im Jahr 1936 von der technischen Reproduzierbarkeit bedroht sah? Ich schätze, es gibt diejenigen, die sagen würden, dass es sie gibt und dass der Wert des einen einzigen Originals nur noch mehr anwachsen würde, je öfter es kopiert wird. Und es gibt diejenigen die sagen, dass es eigentlich egal ist, ob man eine echte Rolex trägt oder eine billige Kopie. Aber es gibt natürlich Unterschiede. Benjamin meinte ja zunächst einmal Kunstwerke, die von Hand erschaffen wurden und eben nicht industriell gefertigt werden. Er meinte auch nicht die Literatur, die natürlich anders funktioniert als z.B. die Malerei. Denn meistens ist der Text an sich ja nicht das Kunstwerk, sondern die Welt, die Geschichte, die er beschreibt bzw. erzählt.
Wie also kann ein Text, der an sich meistens nur die Repräsentation oder das Medium eines Kunstwerkes ist (Handschriften nehme ich hier mal aus) die Aura des Originals bekommen? Gehen wir mal davon aus, dass diese Aura so etwas wie Wahrhaftigkeit beinhaltet. Schließlich bezeichnet das Original in der Kunst ja das Werk, das wahrhaftig von der Hand eines Künstlers geschaffen wurde. Dann kommen wir wieder zu unseren Realismuseffekten, die ja als Beleg dafür gelten sollen, das etwas wahrhaftig passiert ist. Es entsteht der Eindruck von Authentizität in der Literatur.
Ein Beispiel für (vermeintliche) Authentizität in der Literatur
Schon E.T.A. Hoffmann, übrigens einer meiner Lieblingsautoren, hat sich z.B. in seinem Roman „Elixiere des Teufels“ in einem Vorwort an die Leser gewandt. In diesem Vorwort bürgt er dafür, dass die Geschichte, die er erzählt, wahrhaftig passiert ist. Er behauptet, selbst nur der Herausgeber dieses von Medardus selbst geschriebenen Textes zu sein. Der Roman beginnt mit:
Gern möchte ich dich, günstiger Leser, unter jene dunkle Platanen führen, wo ich die seltsame Geschichte des Bruders Medardus zum ersten Mal las.
E.T.A. Hoffmann: Elixiere des Teufels (Vorwort des Herausgebers)
Eine kleines digitales Experiment zur Authentizität in der Literatur des 19. Jahrhunderts
Weder war diese Werk von Hoffmann das einzige, in dem er diesen Kniff anwandte noch war er der einzige seiner Zeitgenossen der das tat. Wer mich kennt, ahnt es schon, ich lasse euch jetzt mit dieser Behauptung nicht einfach in der Luft hängen. Nein, natürlich habe ich mal kurz mit digitalen Methoden geschaut, welche Romane dieser Zeit (19. Jahrhundert) noch Muster aufweisen, die darauf hindeuten, dass sie eine ebensolche Herausgeber-Leser-Situation heraufbeschworen haben (wer sich mit digitalen Tools auskennt: ich habe mit Kollokationen der Begriffe Herausgeber* und Leser* angeschaut, vor allem zu Beginn der Erzähltexte). Von immerhin rund 200 Romanen, aus dem 19. Jahrhundert, die ich zur Verfügung hatte, zeigten 7,5% auffällige Muster. Bei einigen reichte schon ein Blick auf den Titel, um den Verdacht zu bestätigen.
Autoren sind eben alle Lügner!
Okay, es ist also nichts Neues, dass Schriftsteller sich als Herausgeber ausgeben und ihren Lesern vorgaukeln, sie seien etwas, dass sie in Wirklichkeit eben nicht sind – so magst du nun denken. Vielleicht denkst du aber auch: „ja, klar, ich war schon immer voll mit Platon einer Meinung, wenn es um Dichter geht, die sind nämlich alle bloß Lügner“. Aber natürlich würde ich sofort erwidern, dass Wahrheit und Lüge hier gar nicht zur Debatte stünden. Fiktion hat nämlich immer ihren eigenen Status irgendwo dazwischen. Und schließlich lassen wir uns alle doch furchtbar gerne von Dichtern belügen. Jedes Mal gehen wir von neuem den Pakt mit ihnen ein, zu glauben, was sie uns erzählen, wenn auch nur für die Zeit, in der wir es mit eigenen Augen lesen. Wozu also überhaupt so tun, als sei eine Geschichte authentischer als eine bloße Fiktion es sein könnte?
Eine Geschichte von einem Double
Um diese Frage zu beantworten, möchte ich kurz von einem Gegenwartsroman sprechen, den ich vor ein paar Jahren gelesen habe und den ich sehr schön fand. Es handelt sich um Francois Délacourt’s „Im ersten Augenblick“ (hier geht’s zur vollen Rezension). Darin geht es um einen jungen Mann, der eine junge, sehr schöne Frau trifft, die genauso aussieht wie Scarlett Johansson (ja, es ist der Roman, den sie verbieten wollte). Und, du kannst es dir denken, er ist sofort hingerissen von ihr. Später lernt er sie natürlich besser kennen.
Am Ende sieht er sogar mehr in ihr als „nur“ die Kopie von Scarlett Johansson. So ähnlich wie diesem jungen Mann bei der ersten Begegnung mit dem Double, so ähnlich geht es wohl auch mir, wenn auf den ersten Seiten behauptet wird, die nun folgende Geschichte sei 100% authentisch. Im Grunde weiß ich, dass dies nicht der ganzen Wahrheit entspricht. Fasziniert bin ich von dem Gedanken trotzdem. Und wenn ich dann das ganze Buch gelesen habe, frage ich mich, wozu dieser Kniff eigentlich nötig war, bei so einer wunderbaren Geschichte. Ist doch ganz egal, dass sie rein fiktiver Natur ist.
Eine fiktive Autobiografie
Das jüngste Beispiel für ein solches Buch, das ich gelesen habe, ist „Dora und der Minotaurus“ von Slavenka Draculic (hier kommst du zur Rezension). Wieder behauptet eine Autorin, an Dokumente einer anderen gekommen zu sein, die sie lediglich herausbringe. Es handele sich um Aufzeichnungen von Dora Maar, einer Muse Picassos. Wieder einmal hat mich diese Idee dazu gebracht, ein Buch zu lesen. Wieder einmal denke ich hinterher, dass es eigentlich nicht nötig gewesen wäre, den schönen Roman als etwas zu tarnen, dass er nicht ist.
Doch da sind auch noch andere Überlegungen. Die Frage, ob es eigentlich einen großen Unterschied macht, ob diese Aufzeichnungen nun von Dora Maar selbst sind oder nicht. Ob nicht die bloße Behauptung, dass sie es seien, dem Werk schon eine Aura des Originals verleihen. Ob es vielleicht genau diese Aura ist, die mich so für die Authentizität in der Literatur einnimmt. Denn vielleicht ist ja auch die Aura des Originals am Ende eine Fiktion. Wenn sie es sein sollte, ist es auf jeden Fall eine sehr gute!
Du bist auch ein Fan dieser scheinbar authentischen Geschichten? Hier kommen die Buchtipps dazu für dich:
E.T.A. Hoffmann: Die Elixiere des Teufels
Frabncois Delacourt: Im ersten Augenblick
Slavenka Drakulic: Dora und der Minotaurus
Leroy: Alabama Song
Meyerhoff: Ach diese Lücke, diese entsetzliche Lücke (und die drei anderen der Tetralogie auch)
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