Was ist divers? Und in welchen Kontexten ist dieses Wort eigentlich wichtig? Diesen und anderen Fragen gehe ich in diesem Beitrag nach. #Diversität #Bildung #Literatur
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Was ist eigentlich divers

Über mein heutiges Blog-Thema habe ich lange gegrübelt. Ich habe in den letzten Wochen schon so viel über Diversität (z.B. über Transgender in ), Frauen in der Literatur (z.B. Lou Andreas Salomé ) und Vor- und Nachteile des literarischen Kanons (und zwar in diesem Blogpost) geschrieben. Und so sagte mir zwar mein Redaktionsplan, dass ich noch einen Artikel zu diesem Thema schreiben wollte, aber die nötige Motivation blieb aus. Bis, ja bis, ich einen wundervollen Roman gelesen habe und zwar Americanah von … und anfing mich zu fragen: Was ist eigentlich divers? Und warum kann Diversität unterschiedliche Bedeutungen haben?

Was ist divers und was kann es noch sein?

Der Begriff „divers“ begegnet uns im Moment häufig, denn in vielen Stellenausschreibungen wird heute nicht mehr nur nach einem Arbeitnehmer gesucht, sondern meistens noch der Zusatz „m/w/d“ verwendet. Auch auf der Werbung für Studiengänge in der U-Bahn sehen wir immer häufiger „m/w/d“ als Spezifikation der angesprochenen Zielgruppe. Und „m/w/d“ steht für männlich/weiblich/divers. Wir wissen also, dass hier niemand aufgrund seiner Gender-Zugehörigkeit oder Gender-Zuschreibung diskriminiert wird. Die Antwort auf die Frage „Was ist divers“ kann in diesem Kontext also sein:

Die Bezeichnung divers wir für eine Geschlechterkategorie verwendet, die sich nicht in das binäre Schema männlich-weiblich eingliedert. Laut Duden ​(N.N., 2019)​ wird der Begriff für ein drittes Geschlecht verwendet bzw. um Intersexualität zu beschreiben. Der Alltagsgebrauch geht aber viel weiter. Im Prinzip können wir mit dem Begriff alles bezeichnen, was zwischen männlich und weiblich steht oder über diese beiden, binären, Kategorien hinaus geht. Und das ist genau das, worüber ich hier auf dem Blog schon fast zu viel gesprochen habe. Und doch muss ich heute diesen Beitrag schreiben, denn ich hatte eine Augen-öffnende Leseerfahrung.

Was ist divers? Und in welchen Kontexten ist dieses Wort eigentlich wichtig? Diesen und anderen Fragen gehe ich in diesem Beitrag nach. #Literatur #Bücher #Diversität #Bildung #Scitainment

Diversität ist nicht gleich Diversität

Im Roman Americanah von Chimamanda Ngozi Adiche ​(Adichie, 2013)​ nämlich geht es auch um Diversität, aber gar nicht um Gender. Statt dessen ist die Heldin eine Afrikanerin, die zum Studieren in die USA geht und dort so lange bleibt, bis sie zur „Americanah“ wird, also einer Amerianerin, die aus Afrika kommt aber die amerikanische Staatsbürgerschaft bekommen konnte. Und sie ist nicht nur das, sie ist auch noch Bloggerin. Ihr Thema „Race“. Und ihr seht schon, ich verwende hier den englischen Begriff, weil der deutsche für mich ein nicht-Wort ist, dass ich aufgrund der geschichtlichen Prägung hierzulande einfach nicht verwende. Und das tolle an diesem Roman ist unter anderem, denn es gibt sehr viel Tolles an diesem Roman, dass die Protagonistin Ifemelu irgendwann nach Afrika zurückkehrt. Auch hier startet sie irgendwann einen Blog, aber über ganz andere gesellschaftliche Themen, denn hier ist „race“ einfach kein Thema.

Diversität kann kulturell unterschiedlich verstanden werden

Ich erwähne dieses Lektüre-Erlebnis, weil mir beim Lesen klar wurde, dass hier ein Thema im Mittelpunkt steht, das von den gleichen Aspekten geprägt ist wie das der Gender-Diversität. Auch hier geht es um Diskriminierung. Auch hier geht es darum, dass Abweichungen von dem, was gesellschaftlich am häufigsten ist, festgestellt werden. und es geht auch ein bisschen darum, dass eigentlich der schönste und erstrebenswerteste Zustand der ist, in dem dieses Thema egal ist.

Dabei musste ich natürlich sofort an Foucault ​(Barbin and Foucault, 1998)​ denken, der für die Gender-Identität auch festgestellt hat, dass ein Glückszustand wäre, wenn gar nicht nach etwas wie einem „wahren Geschlecht“ gefragt würde (darüber kannst du mehr in diesem Blogpost ​(Schumacher, 2020a)​ lesen). Aber ich habe beim Lesen noch etwas erkannt. Wie blind ich nämlich geworden war für die Facetten des Themas, mit dem ich mich gerade so intensiv beschäftigt hatte. Beim Begriff „divers“ habe ich automatisch nur noch an Genderfragen gedacht. Ethnische Diversität oder Diversität der Hautfarbe hatte ich für eine Zeit lang gar nicht mehr im Blick. Dabei sind auch diese Aspekte z.B. für die ganze Kanon-Debatte, die mich so beschäftigt hat, auch von Bedeutung.

Wo finden wir Diversität in der Literatur

Wenn man sich, so wie ich, viel mit Literatur aus früheren Jahrhunderten beschäftigt, so ist es gar nicht so leicht, Diversität zu finden. Wenn du diesen Blog öfter liest, so weißt du bereits, dass ich gerade ein Gender-Diversitätskorpus aufbaue. Die Idee dazu kam mir in einem Projekt, dass ich gemeinsam mit meiner Kollegin Marie Flüh ins Leben gerufen habe. das Projekt heißt m*w und wir beschäftigen uns darin mit Gender-Stereotypen in der Literatur ​(Flüh and Schumacher, 2019)​. Und wie die meisten Literaturwissenschaftler*innen wollen wir nicht nur die Stereotype erforschen, sondern auch die Abweichungen davon. Und damit kommen wir ziemlich schnell von der Frage „was ist divers“ zu der Frage „was ist eine diverse Figur?“.

Diversität durch ironische Brechungen?

Im m*w-Projekt haben wir z.B. herausgefunden, dass in der Novelle „Die drei Schwestern“ von Ludwig August Kähler Gender-Stereotype aufgebrochen werden ​(Schumacher, 2020b)​. Das geschieht aber nicht dadurch, dass Figuren eingeführt werden, die nicht dem binären Mann-Frau-System entsprechen. Statt dessen nutzt der Autor ironische Überzeichnungen oder weist einer der weiblichen Figuren eine Haupteigenschaft zu, die eigentlich stereotyp männlich ist. Reicht das, um zu sagen, dass wir es hier mit einer diversen Figur zu tun haben?

Diversität durch tiefe Figuren-Charaktere?

Ein anderes Beispiel: In ihrem Roman „Ruth“ porträtiert Lou Andreas-Salomé ​(Andreas-Salomé, 1904)​ ein sechzehnjähriges Mädchen, dass sich in seinen Lehrer verliebt. Er nimmt sie als Ziehtochter bei sich auf, verliebt sich aber auch bald in sie. Im Umgang mit Gleichaltrigen wird Ruth als unkonventionell und freiheitsliebend dargestellt, ihrem Lehrer/Ziehvater gegenüber ist sie aber geradezu unerträglich unterwürfig. Und er ist auch wirklich eine herrische Sorte von Mensch. Die anderen beiden Figuren – die Ehefrau des Lehrers und der leibliche Sohn der beiden – sind auch eher konventionell gezeichnet. Der Jüngling, der sich natürlich ebenfalls in Ruth verliebt, möchte sie heiraten, Arzt werden und ihr ein würdiger Ehemann werden. Die, übrigens gelähmte, Ehefrau ist komplett auf ihren Mann angewiesen. Davon abgesehen stellt sie das emotionale Glück ihres Gatten stets höher als das eigene.

Und dennoch! Dennoch flieht Ruth die Familie als sie erkennt, dass die Liebe ihres Vaters nicht mehr rein väterlicher Natur ist. Dennoch verlässt die plötzlich und wie durch ein Wunder gesund gewordene Ehefrau ihren Mann als sie erkennt, dass er das Mädchen als Frau und nicht wie ein eigenes Kind liebt. Ist das nun das Werk einer Antifeministin, wie Hedwig Dohm Andreas-Salomé einst bezeichnet ​(Dohm, 1899)​ hat? Ich denke nicht. Zeigt uns ein solcher Roman tatsächlich Gender-Diversität? Ebenfalls nicht. Aber ohne Zweifel haben wir es hier mit einem psychologisch sehr dichten Werk zu tun, dass die Charaktere in ihren Widersprüchlichkeiten zeigt. Und wir haben ein Werk, dass im Vergleich zu anderen literarischen Texten des 19. Jahrhunderts den Fokus verstärkt auf weibliche Figuren legt.

Warum mehr Diversität nicht durch weglassen gelingen kann

Hedwig Dohm würde vielleicht sagen: Lest so etwas nicht. Genauso wie einige zu denken scheinen, dass den Kanon zu erweitern, bedeutet, alle Bücher von „alten weißen Männer“ wegzuschmeißen. Ja, tatsächlich habe ich neulich auf Twitter von jemandem gelesen, der genau das tut. Und mich hat diese Aktion tatsächlich noch ein paar Tage beschäftigt, denn einerseits hat es mich berührt, dass selbst „die Vermessung der Welt“ von Daniel Kehlmann ​(Kehlmann, 2005)​ dieser Aussortieraktion zum Opfer gefallen ist.

WTF, dachte ich, ehrlich gesagt. Daniel Kehlmann ist gerade einmal 40 Jahre alt und dieses Buch hat er nicht erst gestern geschrieben. Und das zweite, was mich umgetrieben hat, ist natürlich die Tatsache, dass es sehr wohl großartige Literatur von „alten weißen Männern“ (wer auch immer das sein mag) gibt. Die Inhalte werden aber bei einer solchen Aktion vollkommen unwichtig, da die einzig relevante Kategorie die Autoren der Texte betrifft, eine Kategorie, die in den Literaturwissenschaften längst als ziemlich irrelevant betrachtet wird (mehr darüber in meinem Gastvortrag vom 16.1.2020).

Rückt man nun die Inhalte wieder etwas in den Vordergrund, so stellt man fest, dass es einem, vor allem wenn man viele sogenannte Klassiker liest, gar nichts bringen wird, stumpf auf das Lesen von Texten von Autorinnen umzusteigen. Denn die zeigen häufig eine ebenso heteronormative, männerzentrierte Welt wie die von Autoren. Oft wurden diese Texte ja auch unter männlichen Pseudonymen oder anonym veröffentlicht und es durfte keinesfalls der Eindruck entstehen, sie seien von einer Frau (wie ungern eine Autorin ihren Namen z.B. im 18. Jahrhundert Preis geben wollte, sehen wir u.a. am Vorwort zur 3. Auflage von Elisa, einem Roman von Wilhelmine Caroline von Wobeser ​(Wobeser, 1798)​).

Diversität sucht man darin oft ebenso vergebens wie in den Texten von Autoren. Also ist die Lösung einfach alles und damit viel mehr zu lesen als vorher? Nun, da halte ich es wie Moretti, der sagt (frei zitiert), dass mehr lesen immer gut ist, aber nicht die Lösung ​(Moretti, 2013)​. Wir können es nicht plötzlich schaffen, alle Literatur zu lesen, die man je veröffentlicht hat.

Lasst und zusammen danach suchen, was eigentlich divers ist

Nun, Morettis Lösungsvorschlag ist ja, Distant Reading zu betreiben. Und sein Verständnis von Distant Reading hat nichts damit zu tun, ungenau oder schnell zu lesen. Nein, er versteht unter Distant Reading, dass man nicht unbedingt selbst lesen muss, sondern, dass man z.B. digitale Tools dazu nutzt, sich einen Überblick über Inhalte von Büchern zu verschaffen. Dadurch kann man auch den blick auf mehrere Texte gleichzeitig richten. Wie bei einen Zoom-Effekt kann also durch die Distanz plötzlich mehr in den Blick gerückt werden. Aber wenn man Morettis Ausführungen in seinen Distant-Reading-Essays sehr aufmerksam liest, so stellt man fest, dass das nicht alles ist, was er macht. Er tauscht sich auch mit anderen aus, die Texte selber lesen. Denn er arbeitet nicht allein, sondern im Team.

Gemeinsam das Große Ganze in den Blick nehmen

Und hier sind wir bei dem angekommen, was ich persönlich auch für die beste, spannendste und spaßigste Lösung halte. Man muss zusammen arbeiten und sich über seine Lektüren austauschen, um das große Ganze der Literatur in den Blick zu bekommen. So kann man plötzlich über viel mehr Texte Bescheid wissen. So kann man – wenn man literaturwissenschaftlich arbeitet – auch viel mehr Teilaspekte bearbeiten. Und so muss man nicht plötzlich die Bücher einer Autorenkategorie aus dem Regal räumen, nur um die Regale dann mit Büchern aufzufüllen, die zwar von Frauen geschrieben wurden, aber trotzdem keine weibliche Stimme enthalten. Ja, ich glaube, so können wir tatsächlich unseren Horizont in Richtung Diversität erweitern.

Da es so gut hierher passt, möchte ich jetzt noch einmal kurz daran erinnern, dass ich selbst gerne ein „Diversitäts-Korpus“ zusammenstellen möchte, in dem Literatur versammelt ist, die von Stereotypen abweichende Genderrollen enthalten. Wenn du Ideen für dieses Korpus hast, hinterlass‘ mir gerne einen Kommentar oder schreibe mir eine Email. Ich bemühe mich darum, einen Volltext davon zu bekommen. Alle gemeinfreien Werke des Korpus mache ich dann auf der Webseite des m*w-Projektes, in dem es um Genderstereotypen und -Bewertungen geht, zugänglich.

[cite]

Bibliographie

  1. Adichie, C. N. (2013) Americanah. New York: Alfred A. Knopf.
  2. Andreas-Salomé, L. (1904) Ruth. Stuttgart: Cotta.
  3. Barbin, H. and Foucault, M. (1998) Über Hermaphroditismus. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
  4. Dohm, H. (1899) ‘Weib contra Weib’, Neue Deutsche Rundschau, March, pp. 80–138. Available at: http://www.zeno.org/Literatur/M/Dohm,+Hedwig/Essays/Die+Antifeministen/Weib+contra+Weib (Accessed: 28 January 2020).
  5. Flüh, M. and Schumacher, M. (2019) m*w – das Projekt, m*w. Available at: https;//msternchenw.de (Accessed: 28 January 2020).
  6. Kehlmann, D. (2005) Die Vermessung der Welt. Reinbek: Rowohlt.
  7. Moretti, F. (2013) Distant Reading. London: Verso.
  8. N.N., (2019) divers, Duden. Available at: https://www.duden.de/rechtschreibung/divers (Accessed: 27 January 2020).
  9. Schumacher, M. (2020a) Gender-Diversität und Gender-Neutralität – was st eigentlich ideal?, Lebe lieber literarisch. Available at: https://lebelieberliterarisch.de/gender-diversitaet-und-gender-neutralitaet-was-ist-eigentlich-ideal/ (Accessed: 28 January 2020).
  10. Schumacher, M. (2020b) Genderstereotype in der Literatur – erste Analysen, m*w. Available at: https://msternchenw.de/genderstereotype-in-der-literatur-erste-analysen/ (Accessed: 28 January 2020).
  11. Wobeser, W. C. von (1798) Elisa oder das Weib, wie es sein sollte. Leipzig: H. Gräff.

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