Was ist Literatur? Und was ist ein Narrativ? Uns welcher dieser begriffe hilft uns in der Literaturwissenschaft eigentlich wirklich weiter? Um diese und ähnliche Fragen geht es heute hier! #Literaturwissenschaft #DigitalHumanities #Edutainment
Literaturwissenschaft

Literatur und ihre Narrative

Der Literaturbegriff ist heiß umkämpft. Die einen versuchen, ihn zu schützen und nur das als Literatur durchgehen zu lassen, was ihren strengen Ansprüchen genügt. Die anderen versuchen, ihn zu sprengen, auszudehnen oder immer neu zu denken. Ein Ausweg aus der hitzigen Diskussion könnte über eine Rückbesinnung auf das funktionieren, was im Text – unabhängig von seiner „literarischen Qualität“ – steckt, nämlich die Geschichten (Narrative). Darum schauen wir uns heute diese beiden Begriffe mal etwas genauer an und überlegen, welcher uns eigentlich mehr zusagt.

Was ist Literatur? – eine Kontroverse

Den Begriff „Literatur“ zu definieren, das gelingt mir persönlich ehrlich gesagt kaum, ohne dabei sofort hitzköpfig zu werden. Denn als Literatur wird meistens eine besondere Sorte Text verstanden (und wenn du dich jetzt fragst, wie man Text definieren kann, dann lies am besten schnell nochmal den Artikel von letzter Woche). Literatur ist eine Bezeichnung für Texte, die literarisch sind. Das ist zwar eine Definition, aber eine, die uns nicht wirklich weiter bringt, da sie einen Begriff mit sich selbst erklärt ​(Heydebrand, 1996)​. Oder bringt sie uns vielleicht doch ein kleines Stück weiter, denn das Adjektiv literarisch verwenden wir ja schon in etwas anderer Weise als das Nomen „Literatur“. Als literarisch bezeichnen wir Texte, die sich qualitativ von anderen unterscheiden ​(Heydebrand, 1996)​. Wir haben also meistens sowohl in dem Begriff „literarisch“ als auch bei der „Literatur“ ein Werturteil.

Und damit habt ihr mich schon ganz oben auf meiner Palme. Denn ganz dicht bei einem wertenden Literaturbegriff liegt ein normativer Literaturbegriff. Einer, der einem sagt, was lesenswert ist, oder schlimmer noch, was „man“ gelesen haben sollte. Und es wird ein Abstand klar zu dem anderen der Literatur, den Texten, die diese Qualität nicht haben. Texte, die man nicht lesen sollte.

Und zwischen diesen beiden – der Literatur, die man gelesen haben sollte und den anderen Texten, die man auf eine schwarze Liste setzen sollte – liegt ein ganzer Ozean von Texten, die weder die Ehre hatten, als besonders lesenswert einsortiert worden zu sein noch als besondere Gefahr für die Literarizität. Texte, die einfach zu wenig oder eben nicht von den richtigen Leuten gelesen wurden und die darum von Moretti ​(Moretti, 2013)​ als „the great unread“ und als ein Grund dafür bezeichnet wurden, dass in der Literaturwissenschaft mehr Distant Reading betrieben werden sollte. Aber eins nach dem anderen (und jetzt verspreche ich auch wieder runterzukommen von meiner Palme).

Hochliteratur und der literarische Kanon

Natürlich kann der literarische Kanon helfen. Wir haben eine Orientierung, was aus unterschiedlichen Jahrhunderten sich zu lesen lohnt, weil viele kluge Menschen es für qualitativ hochwertige Literatur hielten. Es sind tolle Sachen im Kanon. Goethe und Schiller und Heine und Hoffmann und Schnitzler und Benn und Brecht und und und. Aber es sind auch tolle Leute nicht im Kanon, wie z.B. Lou Andreas-Salomé und Irmgard Keun und Heinz Strunk und Tino Hanekamp und Sybille Berg und und und.

Was ist Literatur? Und was ist ein Narrativ? Uns welcher dieser begriffe hilft uns in der Literaturwissenschaft eigentlich wirklich weiter? Um diese und ähnliche Fragen geht es heute hier! #Literaturwissenschaft #DigitalHumanities #Edutainment

Du siehst, worauf ich hinaus möchte und wenn du diesen Blog schon länger liest, kennst du meine Einstellung zum Kanon auch schon ein wenig. In meinen Augen sind darin viel zu wenig Frauenstimmen, Gegenwartsautoren und Perspektiven von solchen, die irgendwie nicht zur Mehrheit gehören. Also kurz zusammen gefasst: Kanon lesen ist gut, um einen Grundstock zu haben, am kollektiven Gedächtnis beteiligt zu sein und sich über Literatur austauschen zu könne. Aber dann sollte man auch recht bald rechts und links davon schauen, was es noch alles so in der Welt der Literatur gibt.

Rätsel der literarischen Qualität gelöst?

Und damit wären wir wieder zurück beim Literaturbegriff und ich möchte auch noch etwas darüber nachdenken, ob wir es hier mit einem qualitativen Kriterium zu tun haben. Denn dazu gibt es tatsächlich im Bereich der digitalen Geisteswissenschaften schon ein paar quantitative Studien. 2012 machte sich van Dalen-Oskam mit einem Team auf, um das Rätsel der literarischen Qualität zu lösen. Bis 2019 führten sie in Holland umfangreiche Analysen durch, die auf Umfragen unter Leser*innen basierten, die dann mit bestimmten Textfaktoren wie Satzlänge und Vorkommen seltener Wörter abgeglichen wurden. Tatsächlich schien es hier einen Zusammenhang zu geben. Allerdings wurde auch herausgefunden, dass soziale Faktoren bei der Bewertung eine Rolle spielten. (Koolen ​et al.​, 2020)

Nicht alle Heftromane gleichen einander

Eine korpusbasierte Studie, die sich der Erforschung von Heftromanen widmet, kommt zu den Schlussfolgerungen, dass einige Aussagen über die als Trivialliteratur geltende Textform im Vergleich zur „Hochliteratur“ zwar quantitativ bestätigt werden können, andere müssen allerdings inzwischen als widerlegt gelten. So seien die Sätze zwar in der Tat in Heftromanen meist kürzer und die Varianz der Satzlänge falle geringer aus. Allerdings konnte nicht bestätigt werden, dass der verwendete Wortschatz im Allgemeinen kleiner und die Varianz innerhalb der Genres der Heftromane ist recht groß. ​(Jannidis, Konle and Leinen, 2019)​ Mit anderen Worten kann man nun also wissenschaftlich fundiert behaupten: Nicht jeder Science-Fiction-Heftroman ist gleich!

Pop, Kitsch und alles, was sonst noch Spaß macht

Damit haben wir also die beiden Extremfälle sauber abgedeckt und wissen, dass nicht nur die Hochliteratur aus dem Kanon, sondern auch die Heftchenkultur in der Forschung angekommen ist. Nun, ein bisschen was von dem, was dazwischen ist, wird auch bereits erforscht. Zum Beispiel Popliteratur. Reinald Goetz, Christian Kracht, Benjamin von Stuckrad-Barre und manchmal sogar Alexa Henning von Lange werden schon in der Forschung zu diesem Thema erwähnt. Rocko Schamoni übrigens auch. Heinz Strunk dann aber doch noch nicht, vielleicht weil er sich nicht so gut einordnen lässt. Übrigens so etwas wie „fifty shades of grey“ oder auch „Gone girl“ findet auch ab und zu Erwähnung, z.B. in Archer und Jockers makroanlaytisch-populärwissenschaftlichem Bestseller-Code ​(Archer, 2017)​.

So und jetzt kommen wir zu den wahrhaft blinden Flecken, nennen wir sie mal Urlaubs- und Wochenendlektüre. Bücher, die man liest um sich zu entspannen, vielleicht sogar weil sie so vorhersehbar und immer ähnlich sind. Sowas wie Nicholas Sparks oder Nora Roberts oder Carmen Korn oder Petra Oelker. Das ist es doch, das wahre „great unread“ ​(Moretti, 2013)​ der Literaturwissenschaften. Bücher, die sehr wohl sehr viel gelesen werden und die so in die Kategorie „ganz nett“ fallen. Schauen wir in die Buchhandlungen sehen wir, dass sie tatsächlich das Gros der konsumierten Bücher ausmachen.

Dann kommen natürlich noch die, die zu jung sind, die es aber schaffen können, von der Literaturwissenschaft erforscht zu werden. Für mich sind das definitiv Leute wie Tino Hanekamp, Marc-Uwe Kling oder Sybille Berg. Damit sind wir jetzt unmerklich von einer normativen Auslegung des Begriffes Literatur zu einer diskursiven ​(Heydebrand, 1996; Winko, Jannidis and Lauer, 2009)​ gekommen. Denn schließlich sind es Leser*innen, Feuilletonist*innen, Blogger*innen und Literaturwissenschaftler*innen, die den zukünftigen Kanon bestimmen und das z.T. auch ganz bewusst tun, wie z.B. Tobi vom Lesestunden-Blog in seiner gerade gestarteten Blogger-Kanon-Aktion.

Viel einfacher zu handhaben: Das Narrativ

Das Problem bei der ganzen Literatur-Literarizität-Kanon-Debatte ist, dass man – sobald man sich einmischt – nicht wirklich darum herum kommt, den Kanon in irgendeiner Weise zu reproduzieren. Jedesmal, wenn man (so wie ich das weiter oben gemacht habe) eine Aussage darüber macht, was definitiv im Kanon sei (Goethe, Schiller usw.) bestätigt man diesen. Selbst wenn man den Kanon ergänzen möchte (z.B. um Strunk, Kling, Berg u.a.) bestätigt man dadurch zumindest das Konzept Kanon an sich und damit auch die Idee, dass Literatur eine gewisse Qualität haben muss, um dazu zu zählen.

Ein, wie ich finde, äußerst eleganter Ausweg aus diesem Dilemma ist, den ganzen Literaturbegriff zur Seite zu schieben und sich stattdessen mit Narrativen auseinander zu setzen. Ein Narrativ, das ist eine Erzählung. Meine persönliche Lieblingsdefinition von Narrativ ist: Jemand erzählt jemandem bei einer bestimmten Gelegenheit und mit einem bestimmten Ziel, dass etwas passiert ist ​(Phelan, 2007)​. Diese Definition stammt aus der rhetorischen Erzählforschung, kann aber durchaus auch jenseits von Echtzeit-Kommunikation Verwendung finden und findet diese auch z.B. bei Phelan selbst. Denn erzählen kann man in vielen Formen und Medien. In Büchern natürlich aber auch in Filmen oder eben Alltagssituationen. Erforschen kann man alles davon.

Noch ein Allrounder: Die Narrativität

Selbst wenn man nun etwas erforschen möchte, das kein komplettes Narrativ ist, hat die Erzählforschung eine Lösung parat und die heißt Narrativität. Man kann z.B. untersuchen, ob Lyrik narrativ sein kann ​(Schönert, Hühn and Stein, 2007)​. Oder man kann sich anschauen, wie narrativ Songtexte des 20. und 21. Jahrhunderts sind ​(Modrow, 2016)​. Man kann also Narrativität als absoluten Wert nehmen, den man binär (narrativ vs. nicht-narrativ) vergeben kann oder als eine Skala, die von nicht narrativ bis extrem narrativ geht ​(Abbott, no date)​. Narrativität ist ein komplexes Phänomen, das vielleicht am Einfachsten zu erklären ist, wenn man es in einem engen Zusammenhang mit der sogenannten „Eventfulness“ stellt. Die wiederum hängt mit zwei unterschiedlichen Event-Begriffen zusammen, die wir ganz pragmatisch Event I und Event II nennen.

Event I

Der Event I Begriff ist schnell erklärt. Das Event I ist eine simple Zustandsveränderung. Viele Verben deuten darauf hin, dass ein Event stattfindet. Ein simpler Satz wie „es regnet“ drückt kein Event aus. „Plötzlich setzte Platzregen ein“ aber schon, denn hier verändert sich etwas. Events von diesem Typus haben den Vorteil, dass sie relativ klar und eindeutig erkannt werden können, sowohl von menschlichen Leser*innen als auch von Computern ​(Meister, 2003)​. Sie haben den Nachteil, dass sie in Erzähltexten, vor allem in langen wie z.B. Romanen, sehr sehr zahlreich sind und dass sie nicht immer eine wirklich spannende Bedeutung für die Geschichte haben.

Event II

Events vom Typ II sind da anders. Nach Schmid ​(Schmid, 2014)​ können diese Events auf fünf Ebenen herausragend sein:

  1. Relevanz
  2. Unvorhersehbarkeit
  3. Wirksamkeit (im Hinblick auf die Veränderung der erzählten Welt oder einer Figur darin)
  4. Unumkehrbarkeit
  5. Einzigartigkeit

Ein Event II muss nicht alle diese Kriterien erfüllen, aber mindestens eines von ihnen. Zusätzlich braucht es auch noch Faktizität und Resultativität. Das bedeutet nicht, dass Events II nur im faktualen Erzählen vorkommen können, nein, die Events müssen innerhalb der Erzählten Welt tatsächlich stattfinden (nicht bloß erträumt oder vorgestellt sein) und sie müssen sich auf die erzählte Welt irgendwie auswirken. ​(Hühn, 2013)​

Events II tragen unmittelbar zur Narrativität bei, denn die fünf Kriterien der „Eventfulness“ entscheiden darüber, ob eine Geschichte erzählenswert ist oder nicht. Anders ausgedrückt, es sind die Events dieser Kategorie die die Knallergeschichten von den langweiligen trennen. Statt eines diffusen und potentiell normativen Literaturbegriffs, haben wir hier also Handwerkszeug, mit dem wir arbeiten können in Form von 5 eindeutigen und harten Kriterien, oder? Naja, ganz so einfach ist es natürlich nicht. Dass diese fünf Kriterien auch wieder interpretationsabhängig sind, erkennt man daran, dass die Events II sich eben nicht so einfach automatisch von Computern erkennen lassen wollen ​(Dunn and Schumacher, 2016)​.

Wissenschaftler*innen als Gatekeeper oder Teamplayer

Jetzt könnte man von hier aus zu dem Schluss kommen, dass am Ende also doch wieder der Wissenschaftler oder die Wissenschaftlerin darüber entscheidet, welche Geschichten denn nun besonders viel „Eventfulness“ haben, besonders narrativ sind und darum auch besonders lesenswert. Aber man kann auch einen anderen Weg gehen und sich fragen, was denn eigentlich Events sind, die von mehreren Leser*innen übereinstimmend als besonders eventful interpretiert werden. Hat man erst einmal gemeinsam solche Daten erhoben, so kann man mit diesen dann auch besser versuchen, Computer zu lehren, was Events II sind und wie man sie finden kann.

Was meinst du dazu? Sollten Wissenschaftler*innen sich als Gatekeeper verstehen, die die literarische Qualität des Kanons bewahren? Oder ist es Zeit, gemeinsam darüber nachzudenken, was Geschichten oder auch Gedichte und Songs eigentlich besonders narrativ macht?

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Bibliographie

  1. Abbott, P. (no date) ‘Narrativity  the living handbook of narratology’. Available at: https://www.lhn.uni-hamburg.de/node/27.html.
  2. Archer, J. (2017) Der Bestseller-Code was uns ein bahnbrechender Algorithmus über Bücher, Storys und das Lesen verrät. [1. Auflage]. Plassen Verlag.
  3. Dunn, S. and Schumacher, M. (2016) ‘Explaining Events to Computers: Critical Quantification, Multiplicity and Narratives in Cultural Heritage’, Digital Humanities Quarterly.
  4. Heydebrand, R. von 1933-2011 (1996) Einführung in die Wertung von Literatur Systematik – Geschichte – Legitimation. Schöningh (UTB für Wissenschaft: Uni-Taschenbücher: Literaturwissenschaft).
  5. Hühn, P. (2013) ‘Event and Eventfulness’. Available at: http://www.lhn.uni-hamburg.de/article/event-and-eventfulness.
  6. Jannidis, F., Konle, L. and Leinen, P. (2019) ‘Makroanalytische Untersuchung von Heftromanen’, in. DHd 2019 multimedial und multimodal, DHd 2019.
  7. Koolen, C. et al. (2020) ‘Literary quality in the eye of the Dutch reader: The National Reader Survey’, Poetics, p. 101439. doi: https://doi.org/10.1016/j.poetic.2020.101439.
  8. Meister, J. C. 1955- (2003) Computing action a narratological approach. de Gruyter (Narratologia 2).
  9. Modrow, L. (2016) Wie Songs erzählen Eine computergestützte, intermediale Analyse der Narrativität. Peter Lang Edition.
  10. Moretti, F. 1950- (2013) Distant reading. Verso.
  11. Phelan, J. (2007) ‘Rhetoric/ethics’, The Cambridge Companion to Narrative. doi: 10.1017/CCOL0521856965.014.
  12. Schmid, W. (2014) Elemente der Narratologie. Berlin: de Gruyter.
  13. Schönert, J., Hühn, P. and Stein, M. (2007) Lyrik und Narratologie: Text-Analysen zu deutschsprachigen Gedichten vom 16. bis zum 20. Jahrhundert. Berlin ; New York: W. De Gruyter (Narratologia).
  14. Winko, S., Jannidis, F. and Lauer, G. (2009) Grenzen der Literatur: zu Begriff und Phänomen des Literarischen. Walter de Gruyter.

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