Was ist eigentlich genau Text und warum lohnt es sich darüber nachzudenken? Dieser Frage gehen wir in diesem Artikel nach. #Literaturwissenschaft #Edutainment #DigitalHumanities
Literaturwissenschaft

Lass uns kurz mal „Text“ definieren…

Wir nutzen ihn, wir lieben ihn, wir reden über ihn – aber wissen wir auch genau, was Text eigentlich ist. Natürlich haben wir alle so ein Alltagsverständnis davon, was wir meinen, wenn wir „Text“ sagen, aber reicht uns das aus, wenn wir z.B. Literaturwissenschaftler*innen werden wollen?

Ja, es ist so weit. Am Montag hat nun mein Seminar zur Einführung in das Studium der neueren deutschen Literaturwissenschaft begonnen. Alles anders, da alles digital und alles auf jeden Fall sehr spannend. Und da haben wir als erstes entdeckt, wie interessant es sein kann, über Text nachzudenken. Eine Erfahrung, die ich natürlich hier mit euch teilen möchte. Und natürlich fing das Ganze damit an, dass mal kurz „Text“ definiert werden sollte…

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Was ist Text?

Eigentlich steht an dieser Stelle in diesem Blog immer irgendwie eine Definition. Allerdings immer nur eine, die erklärt, wie ich einen Begriff gerade in genau diesem Artikel verwende. Eine Klarstellung, damit wir uns besser verstehen. Die Antwort auf die Frage „Was ist Text?“ muss aber ganz anders aussehen, oder? Eindeutig, allgemeingültig. Bei sowas kann ich mich nicht auf mich allein verlassen. Schau ich aber in die Literatur, finde ich so etwas:

Die einen sagen so etwas wie (oder haben so etwas gesagt wie): Text ist ein sprachliches System, eine Abfolge von Sätzen, die strukturiert sind. ​(Brinker, 1973; Winko, Jannidis and Lauer, 2009)​

Die anderen meinen eher: Ein (fixierter) Text ist ein Schriftgebäude, das über den eigenen Entstehungskontext hinaus geht und in dem man wunderbar fiktive Welten entwerfen kann. ​(Jeßing and Köhnen, 2007)​

Noch andere sagen: Text, das ist alles was man lesen kann, also nicht nur Sprachliches, sondern auch Bilder, Töne, Landschaften, alles halt. ​(Geertz, 2006)​

Und das sind nur drei stark zusammen gefasste Ansätze von Textdefinitionen aus dem Bereich der Literatur- und Kulturwissenschaften. Zum Glück gibt es auch bereits systematische Aufarbeitungen, die die unterschiedlichen Textverständnisse ordnen und uns eine Idee davon geben, wo sie herkommen und was man damit anfangen kann. So gibt uns z.B. der pluralistische Textbegriff als Rad von Sahle ​(Sahle, 2009)​ einen Eindruck davon, dass die Textdefinitionen häufig auf unterschiedlichen Ebenen ansetzen, wie z.B. auf der Inhaltsebene, auf der Ebene des Dokuments oder auf der Ebene des sprachlichen Ausdrucks.

Was ist eigentlich genau Text und warum lohnt es sich darüber nachzudenken? Dieser Frage gehen wir in diesem Artikel nach. #Literaturwissenschaft #Edutainment #DigitalHumanities

Wie funktioniert Text?

So oder so kommen wir am Ende zu der Einsicht, dass es sie nicht gibt. Die eindeutige, allgemein gültige, kurze, knappe und einprägsame Textdefinition. Wenn wir also die Frage „Was ist Text?“ nicht so einfach beantworten können, vielleicht sollten wir sie anders stellen. Vielleicht sollten wir statt dessen fragen: Wie funktioniert Text? Mit einem Text kann etwas ausgesagt, dokumentiert, eine Emotion (oder mehrere) ausgelöst, beschrieben, kritisiert, eine fiktive Welt dargestellt, etwas festgestellt werden und es können damit sogar Fakten geschaffen werden. Und das sind nur ein paar der Funktionen von Texten, die mir gerade so in den Sinn kommen oder die Studierende meines Seminars, das gerade aufgrund der derzeitigen Corona-Situation digital und weitgehend asynchron durchgeführt wird, gefunden haben. Aber auch hier gibt es ja Systematisierungen, die uns Kategorien an die Hand geben, die jeweils für mehrere dieser Einzelfunktionen passen können.

Fünf Grundfunktionen

Brinker ​(Brinker, 1993)​ hat z.B. ein Modell entwickelt, das fünf Grundfunktionen umfasst; die Informationsfunktion, die Apellfunktion, die Obligationsfunktion, die Kontaktfunktion und die Deklarationsfunktion. Da passt jetzt schon Vieles von dem rein, was uns an Texten alltäglich so umgibt. Textnachricht – Kontaktfunktion, Werbetext – Apellfunktion, Vertrag – Obligationsfunktion, gerichtliches Urteil – Deklarationsfunktion, Nachrichtentext – Informationsfunktion. Aber natürlich reichen uns diese fünf Boxen auch wieder nicht, um alle Textsorten, die es so gibt einzuordnen. Was ist denn z.B. nun mit literarischen Texten? Und überhaupt, was ist, wenn ich unter Texten nicht nur das verstehe, was von den Beispielen abgedeckt wird, sondern eben auch so etwas wie ein Rapsfeld. Oder eben wie der von Geertz beschriebene Hahnenkampf​(Geertz, 2006)​. Weil ich so etwas eben auch lesen kann. Schon sind wir wieder an dem Punkt angelangt, an dem wir eine Definition des Textes brauchen – wir drehen uns im Kreis.

Warum sollte ich darüber nachdenken, was Text ist?

Genau dieser Kreis ist es aber, der uns doch bereits ein wenig weiter gebracht hat. Von der Frage nach einem allgemeinen Textbegriff kommend sind wir dazu gekommen, uns einzelne Textfunktionen anzuschauen und auch ein paar einzelne Textsorten. Das hat uns dann wieder zur Frage nach dem allgemeinen Textbegriff zurückgeführt. Und wie wir so von der Betrachtung des Ganzen zu der Betrachtung des einzelnen Teils und wieder zurück gekommen sind, haben wir immerhin schon einmal ein paar Erkenntnisse über Text gesammelt. Nämlich, dass sie unterschiedliche Funktionen erfüllen können und dass es unterschiedliche Arten von Text gibt. Immerhin, damit kann man doch schon mal in die nächste Runde starten, oder? Auf geht’s in eine potentiell endlose Rutschpartie im hermeneutischen Zirkel!

Andere sehen Text anders

Es kann ja ganz nett sein, da mal so ein paar Runden zu drehen, aber dann kann man auch schonmal das Bedürfnis haben, auszubrechen. Wenn es so weit ist, ist es eigentlich immer gewinnbringend sich mal anzuschauen, was andere Disziplinen so machen, wenn sie sich mit ähnlichen Themen beschäftigen. Wie meistens finde ich es in einer solchen Situation am naheliegendsten, sich anzuschauen, wie denn eigentlich Computer mit Text umgehen. Denn schon Sokrates hat ja erkannt, dass bewusstes nicht-Wissen helfen kann, die Dinge etwas klarer zu beschreiben. Und wer könnte jemals weniger wissen als ein untrainierter Computer?

Computerlesbar = Text?

Hier könnte man so ansetzen, dass man Text als all das beschreibt, was ein Computer lesen kann. Da fällt dann alles raus, was nicht als „computerlesbar“ bezeichnet wird also z.B. Bilder. Obwohl, Moment, NOCH sind Bilder vielleicht nicht computerlesbar, aber lernen Bildabgleichende Algorithmen nicht gerade genau das, nämlich Bilder immer besser „lesen“ zu können? Dazu kommt noch die Tatsache, dass selbst bei computerlesbarem Text häufig zwei Ebenen von Text eine Rolle spielen, und zwar der Text, der im Frontend, also auf dem Bildschirm, dargestellt wird und der Text, der dem Computer sagt, wie er diesen Text darstellen soll, also z.B. der html-Text. Beide Texte sind grundsätzlich in ein und demselben Dokument festgehalten, kommunizieren aber auf unterschiedliche Weise mit unterschiedlichen Lesern (dem Computer und dem Menschen davor).

Code = Text?

Und als ich mich über genau dieses Thema mit Kollegen aus den digitalen Geisteswissenschaften austauschte, machte mich einer auf ein Buch aufmerksam, in dem unter anderem dieses hier steht:

Code is a peculiar kind of text, written, maintained, and modified by programmers to make a machine operate. It is a text nonetheless, with many of the properties of more familiar documents. Code is not purely abstract and mathematical; it has significant social, political, and aesthetic dimensions. The way in which code connects to culture, affecting it and being influenced by it, can be traced by examining the specifics of programs by reading the code itself attentively.

​(Vawter, Patsy Baudoin, John Bell, Ian Bogost, Jeremy Douglass, Mark C. Marino, Michael Mateas, Casey Reas, Mark Sample, {and} Noah, Nick Montfort, no date)​

Bei der Betrachtung von Code als einer spezifischen Form von Text kommt man also letztendlich zu ähnlichen Schlussfolgerungen wie bei der literaturwissenschaftlich-kulturwissenschaftlichen Betrachtung von Text. Es gibt eine primäre Funktion, die Kommunikationsfunktion. Aber dann kann auch dieser Text in seinem Kontext, seiner sozialen, politischen und kulturellen Dimension gesehen werden. Das Lesen eines solchen spezifischen Textes, eines Codes, durch einen Menschen führt genauso zu Interpretationen, die jenseits des Textes liegen wie das literaturwissenschaftliche Lesen eines Romans. Es können ganz ähnliche Rückschlüsse auf die Entstehungsgeschichte, die Verwendungsweise und die kulturelle Dimension des Schreibens gezogen werden. Unnötig noch einmal zu betonen, dass die jeweils betrachtete Textkategorie natürlich sehr unterschiedlich ist.

Warum wir Definitionen brauchen

Fest steht, die Beschäftigung mit Definitionen kann – vor allem am Anfang, wenn man von der hundertsten zur tausendsten kommt – ganz schön nerven. Aber je länger wir in unserem hermeneutischen Zirkel unsere Loopings fahren, desto tiefer dringen wir in das Verständnis unserer Begriffe. Und wenn wir es dann auch noch wagen, mal rechts und links zu schauen, was andere so machen, kann es richtig spannend werden. Denn manchmal kommt man aus unterschiedlichen Richtungen zu ähnlichen Schlüssen. Oder man kommt zu ganz anderen. Aber immer ist man sich am Ende zumindest ein wenig bewusster darüber, was man selbst eigentlich meint, wenn man einen bestimmten Begriff nutzt und womit man sich eigentlich beschäftigen möchte.

[cite]

Bibliographie

  1. Brinker, K. (1973) Linguistische Textanalyse : eine Einführung in Grundbegriffe und Methoden. Berlin: E. Schmidt.
  2. Brinker, K. 1938-2006 (1993) Textlinguistik. Heidelberg: Groos (Studienbibliografien Sprachwissenschaft 7).
  3. Geertz, C. 1926-2006 (2006) Dichte Beschreibung Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme. 1. Aufl, [9.Nachdr.]. Frankfurt am Main: Suhrkamp (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft).
  4. Jeßing, B. and Köhnen, R. (2007) Einführung in die Neuere deutsche Literaturwissenschaft . Stuttgart: Metzler.
  5. Sahle, P. (2009) Digitale Editionsformen: Textbegriffe und Recodierung. Norderstedt: BoD – Books on Demand.
  6. Vawter, Patsy Baudoin, John Bell, Ian Bogost, Jeremy Douglass, Mark C. Marino, Michael Mateas, Casey Reas, Mark Sample, {and} Noah, Nick Montfort (no date) ‘10 PRINT CHR$(205.5+RND(1)); : GOTO 10’. Available at: http://10print.org.
  7. Winko, S., Jannidis, F. and Lauer, G. (2009) Grenzen der Literatur: zu Begriff und Phänomen des Literarischen. Berlin: de Gruyter.

3 Kommentare

  • Felix Lott

    Liebe Frau Schuhmacher,
    ich freue mich jeden Donnerstag darauf von Ihnen zu hören. Vor allen Dingen, wenn es dann noch so spannende Themen sind wie „Was ist Text?“. Ich habe vor etlichen Jahren selbst Germanistik studiert und als ich ihren heutigen Text über Texte las, fiel mir wieder das Buch eines alten Freundes von mir ein, das in diesem Zusammenhang für Sie recht spannend sein könnte:
    „Florian Cramer
    Poetische Kalküle und Phantasmen des selbstausführenden Textes“
    Wilhelm Fink Verlag
    Könnte dieses Buch für Sie interessant sein?

    MfG
    Felix lott

    • Mareike K Schumacher

      Lieber Herr Lott,

      das klingt in der der Tat sehr, sehr spannend. Das werde ich mir auf jeden Fall anschauen!

      Vielen Dank und herzliche Grüße,
      Mareike

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