Kolumne

Biografisch Lesen

In den Literaturwissenschaften ist es ein wenig verpönt, biografisch zu lesen, im Buchhandel kann man sich kaum vor dem Werbefaktor biografisch gefärbter Geschichten retten. Aber was spricht denn nun eigentlich dagegen? Und warum kann man sich selbst manchmal nur schwer davon losmachen? Diesen Fragen möchte ich heute ein bisschen genauer nachgehen.

Was heißt biografisch Lesen?

Einen Text biografisch lesen, das heißt zunächst einmal nur, ihn in engen Bezug zur Lebensgeschichte des Autors bzw. der Autorin zu setzen. Das kann in uns einen prickelnden Realitätseffekt à la „oh mein Gott, es ist alles wahr“ auslösen. Aber darüber möchte ich heute nicht schreiben, denn dazu gibt es schon einen eigenen Blogartikel von mir. Das kann aber auch – und darüber möchte ich heute sprechen – zum Analyseprinzip werden. Das ist der Fall, wenn ich als Literaturwissenschaftlerin z.B. annehme, ein Schreibender würde in seinem Werk ein bestimmtes Trauma verarbeiten. Da ich hier schon öfter davon gesprochen habe, nehmen wir mal Nietzsche. Wenn ich also behaupten würde (was ich natürlich nicht tun würde, aber dazu später), Nietzsche hätte seinen Schreibstil von frühen Werken wie „Menschliches allzu Menschliches“ zu den Zarathustra-Texten komplett geändert, weil Lou Andreas-Salomé ihn nicht heiraten wollte, so wäre das eine biografistische These. Oder anders herum: Die Werke eines Schriftstellers werden im Laufe seines Lebens immer abgedrehter, also stelle ich mal die These auf, er sei an Syphilis erkrankt. Auch dies ist irgendwie eine biografistische These. Denn ich schließe hier vom Werk unmittelbar auf Details aus dem Leben des Autors.

Warum sollten wir nicht biografisch lesen?

In den Jahren 1968 und 69 sind zwei kurze Texte herausgebracht worden, die uns Literaturwissenschaftler*innen seither das biografische Lesen ziemlich doll vermiest haben. Der erste ist von Barthes und heißt „der Tod des Autors“ ​(Barthes, 2005)​. Der zweite ist von Foucault und heißt „Was ist ein Autor?“ ​(Foucault, 1988)​. Beide kommen zu dem Schluss, dass das Interesse auf dem Werk liegen sollte. Barthes sieht dieses Werk nicht unbedingt als Schöpfung einer autoritären Instanz. Der Schreibprozess sei zu wenig greifbar, zu komplex und der resultierende Text ein durchlässiges Konzept. Foucault schreibt in seinem Text, das Werk würde seinen Schöpfer umbringen. Es sollte ihn unsterblich machen, aber es tut das Gegenteil.

Und wenn wir jetzt sicher zum Unmut von Foucault ein paar Gedanken seines Lieblingsfeindes Sartre mit hineinbringen, so können wir noch einen Schritt weiter denken. Denn ganz im Sinne seiner Idee, dass die Hölle die anderen ​(Sartre, 1987)​ seien, die die einen anhand der eigenen Taten beurteilen, ist der schriftstellerische Text ein immerwährender Anlass, um den Autor mit biogarfistischen Schlussfolgerungen (ich sag nur „Syphilis“) zu quälen. Und tja, naja wer weiß, vielleicht schauen Foucault und Sartre wie im Theaterstück „geschlossene Gesellschaft“ gerade gemeinsam aus dem Fenster ihres Höllenraumes und denken jeder für sich: „Oh nee, was schreibt sie denn da, ich hab es ja gewusst! Hölle!“

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Und wenn uns Autor*innen fast schon dazu zwingen?

Ich muss jetzt etwas abrupt das Thema wechseln, aber ich verspreche, wir werden noch zu dieser Stelle zurückkommen. Ich wurde neulich gebeten, ein Interview im Deutschlandradio Kultur zum Thema Musen zu geben. Anlass war, dass auf Arte ein Biopic über Lou Andreas-Salomé ausgestrahlt werden sollte. Hinterher schrieb mich meine Team-Kollegin vom Coding Gender Hackathon an und wir tauschten uns aus, was wir gerade so von und über sie lesen, denn das Thema beschäftigt uns gerade beide. Und sie erzählte mir, dass sie gerade Frieda von Bülows „Novellen über Lou Andreas-Salomé und andere Frauen“ ​(Bülow, 2011)​ las. Eine Sammlung von Erzählungen, die ich – und jetzt kommt’s – auch noch lesen wollte, um mehr über Lou Andreas-Salomé zu erfahren. Zack, war ich also in der Falle gelandet. Ich hatte mir vorgenommen biografisch zu lesen…

Eine Novellensammlung, die dazu einlädt biografisch zu lesen

Aber mal ehrlich „Novellen über Lou Andreas-Salomé und andere Frauen“? Der Titel fordert es ja geradezu heraus. Und dann haben die Erzählungen darin auch noch so Titel wie „zwei Menschen“. Also nicht sowas wie „Meine BFF Lou und ich“. Während also der Titel der Sammlung Biografisches verspricht, lassen die Novellen eher Fiktionen vermuten. Und das ist doch eine unschlagbare Kombination, oder? Wer fühlt da denn nicht einen gewissen Spürsinn in sich erwachen? Da geht man dann doch ganz bewusst im Wald der Fiktionen spazieren, um genau den Wald zu finden, in dem Lou und Frieda sich die Köpfe heiß diskutierten.

Biografisch lesen kann Spaß machen, aber bringt es uns weiter? Oder sollten wir uns lieber an Barthes und Foucault halten und sagen: der Autor ist tot? Über diese und andere Fragen denke ich hier nach. #literaturwissenschaft #Kolumne #Bücher

Ein Roman, der dasselbe tut

Ein anderes Beispiel, das genauso gut funktioniert, liefert Andreas-Salomé uns selbst. Denn in ihrem Lebensrückblick streut sie geschickt Hinweise ein, dass sie in ihrem Roman „das Haus“ ​(Andreas-Salomé, 1987)​, den ich übrigens gerade lese, Charaktere aus ihrem Freundeskreis als Figuren eingebunden hat. Sie habe Rilke in einem Jüngling porträtiert und sogar, mit dessen Einwilligung, eine Passage aus einem Brief des Dichters an sie, verwendet. Und tatsächlich glaubt man den Jüngling schnell gefunden zu haben. Das zarte Gemüt, die psychische Instabilität, ja sogar ein Dichter ist diese Figur. Da kann man doch gar nicht anders als ins biografische Lesen zu verfallen, oder?

Fiktionen, fiktive Autoren und sehr reale Menschen

Meinetwegen kann man sich jetzt z.B. nach diesem Roman ein Rilke-Bild formen. Oder nach von Bülows Novellen eine Persönlichkeit von Lou Andreas-Salomé ausgestalten. Aber was nützt uns das eigentlich? Diese Autoren sind buchstäblich tot und alles, was wir uns heute über ihre Persönlichkeiten überlegen ist notwendig bloße Fiktion. Und dass ist es auch, was Barthes und Foucault meines Erachtens mit ihren Texten anmahnen. Dass wir uns bewusst darüber werden, dass wir keine Schlüssel zum „wahren Rilke“ zur „wahren Lou Andreas-Salomé“ in der Hand haben, sondern bloß Fiktionen. Darum erhalten Texte auch ihre Autoren nicht am Leben. Sie schaffen lediglich eine Projektionsfläche für eine vermutete Persönlichkeit. Die historische Persönlichkeit wird durch diese ersetzt und dadurch – quasi zum zweiten Mal – erst so richtig getötet.

Nochmal zurück zur Hölle der anderen

Kein Wunder übrigens, dass Foucault nicht viel von den Theorien Sartres hielt. Denn während er noch die Hoffnung gehabt zu haben scheint, mit seinen Texten ein Bewusstsein darüber zu verbreiten, dass Text und Autor nicht in einen Topf geworfen werden können, scheint Sartre dem eher pessimistisch gegenüber zu stehen. Mit seinem Theaterstück „geschlossene Gesellschaft“ ​(Sartre, 1987)​ und seinen Ideen zur Unaufrichtigkeit (mouvaise foi) ​(Sartre, 1993)​ scheint er immer wieder zu mahnen: Sie werden es doch tun! Sie werden urteilen! Die einzige Möglichkeit, die Hölle der anderen abzuwenden ist absolute Aufrichtigkeit gegenüber sich selbst und den anderen.

Was wirklich zählt

Ok, zum Schluss möchte ich noch einmal kurz weg kommen von der Misere des Autors, der über sein Werk gedeutet und bewertet wird. Denn eine vielleicht wichtigere Frage ist ja, was bringt es uns eigentlich biografisch zu lesen? Es kann einen kurzen Authentizitätseffekt geben, der ganz nett ist. Aber wir kommen am Ende damit halt doch nicht weiter als bis zu Autoren, die im schlimmsten (und in der Literaturwissenschaft leider häufigsten) Fall auch noch tot sind. Viel interessanter ist es doch da, statt der individuellen Züge einer Persönlichkeit die universellen ins Auge zu fassen. Fragen in den Vordergrund zu rücken, die das Dargestellte zu unserer eigenen Lebenswelt in Beziehung setzen. Ist es z.B. wichtig, dass Schriftsteller selbst erfahren haben, worüber sie schreiben? Ist es wichtig, dass sie authentische Leben in ihre Literatur bringen? Nein, eigentlich ist das einzig Wichtige, dass sie das Menschliche in all seinen Facetten schildern. So werden ihre Texte psychologisch dicht und zeitlos und so können uns auch heute noch Texte, die vor hunderten von Jahren geschrieben wurden, bedeutsam erscheinen. Oder was meinst du?


[cite]

Referenzen

  1. Andreas-Salomé, L. (1987) Das Haus. Frankfurt am Main/Berlin: Ullstein.
  2. Barthes, R. (2005) ‘Der Tod des Autors’, in Das Rauschen der Sprache. Frankfurt am Main: Suhrkamp, pp. 57–63.
  3. Bülow, F. von (2011) Die schönsten Novellen über Lou Andreas-Salomé und andere Frauen. Hamburg: Tredition.
  4. Foucault, M. (1988) ‘Was ist ein Autor?’, in Schriften zur Literatur. Frankfurt am Main: Suhrkamp, pp. 7–31.
  5. Sartre, J. P. (1987) Geschlossene Gesellschaft. Reinbek: Rowohlt.
  6. Sartre, J. P. (1993) Das Sein und das Nichts. Reinbek: Rowohlt.

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