Kolumne

Transgender – eine geisteswissenschaftliche Perspektive

Ich schau gerne MaiLab, den Science-Kanal von Mai Thi Nguyen-Kim. Aber, wie ihr vielleicht schon mitbekommen habt, vor allem, wenn ihr meinen Post zum Thema „populärwissenschaftliches Bloggen“ schon gelesen habt, vermisse ich manchmal die geisteswissenschaftliche Perspektive. Vor allem ging mir das so bei ihrer Folge „Die Wissenschaft hinter Transgender“. Darin erklärt Mai ganz wunderbar eine Reihe von naturwissenschaftlichen Hypothesen zu Trans-Identitäten. Im Nebensatz erwähnt sie auch, dass man nicht genau weiß, ob die Biologie in Genderfragen tatsächlich die Identität bestimmt oder ob gesellschaftliche und kulturelle Zusammenhänge so stark auf das Gehirn einwirken, dass sie es eigentlich sind, die die Identität einer Person bestimmen. Zwar kommen bei ihr auch im Folgenden noch einmal die Sozialwissenschaften als mögliche Erklärungsgeber vor, aber nicht die Kulturwissenschaften und schon gar nicht die Literaturwissenschaften. Ideen aus der Biologie könnt ihr, wie gesagt, bei Mai erfahren, hier kommen einige Ideen zu Genderidentitäten aus den Literatur- und Kulturwissenschaften.

Was ist eigentlich Gender?

Erst einmal müssen wir natürlich eine Grundsatzfrage klären. Was ist Gender? Denn ohne sich klarzumachen, was das bedeutet, kann man auch die Transgender-Problematik nicht verstehen. Die Biologie sagt: Es gibt biologische äußere Merkmale und es gibt Merkmale im Gehirn, von denen man nicht genau weiß ob sie biologisch oder durch kulturelle Prägung entstehen. Das ist für uns leicht nachvollziehbar, denn zumindest äußere Merkmale können wir ja sehen. Wenn jemand wie Judith Butler daher kommt und behauptet, dass Geschlecht nur eine gesellschaftliche Konstruktion ist, dann ist das für viele erst einmal schwer zu glauben. Kulturelle Phänomene kann man nämlich nicht so gut mit eigenen Augen sehen.

Wieso Gender (auch) was kulturelles ist

Viele denken, ziemlich genau zu wissen, was eine Frau und was ein Mann ist. Aber, was als männlich und was als weiblich wahrgenommen wird, ist eine kulturelle Frage. Mädchen mögen rosa. Warum? Weil ihre Klamotten, ihre Spielzeuge und ihre Vorbilder ihnen von frühester Kindheit an signalisieren, dass es gut ist, wenn sie rosa mögen. Jungs sind stark und kämpfen gern und zwar aus denselben Gründen. Auf diese Weise wird zunächst individuell und dadurch auch gesellschaftlich festgelegt, was weiblich und was männlich ist. Das bedeutet auch, dass man selbst als Individuum da nicht viel mitzuentscheiden hat. Das sagen jedenfalls die Gendertheoretiker.

In diesem Artikel dreht sich alles, um die kulturellen Aspekte von Transgender. Du willst Trans-Identitäten besser verstehen? Dann ist diese Perspektive genau die richtige!
Was ist eigentlich eine Trans-Identität und wieso ist das Thema so kompliziert?

Gibt es zwei oder drei oder viele von diesen Genders?

So weit, so gut, aber was ist dann das Transgender? Nun, binäre Zuweisungen wie z.B. Mann-Frau können gar nicht realistisch sein. Wir sind nämlich alle Individuen. Und wenn wir versuchen, uns in diese Normen zu pressen, wird es uns nicht unbedingt gut gehen, weil sie eben nicht einer facettenreichen Persönlichkeit entsprechen. Besonders schwer wiegt das Ganze, wenn jemand, der von außen aussieht wie ein Mann, über besonders viele Eigenschaften verfügt, die die Kultur, in der dieser Mensch lebt, als weiblich verbucht (oder anders herum).

Transgender – eine Frage der Identität

Eine andere Theorie, die das Thema Transgender beleuchten kann, hat ihren Ursprung tatsächlich in der Literaturwissenschaft. Genauer in der Erzähltheorie auch genannt Narratologie. Denn vor einigen Jahrzehnten gab es den sogenannten narrative turn. Danach sah man plötzlich in vielen Wissenschaften vieles narrativ. Ziemlich zu Beginn dieser Entwicklung steht die Idee, der Mensch sei ein Homo narrans (der Begriff geht übrigens zurück auf den Germanisten Kurt Ranke), also ein von Natur aus erzählendes Wesen. In dieser Tradition steht auch die Theorie der narrativen Identität. Die besagt, dass Menschen sich im Laufe ihres Lebens eine narrative Identität aufbauen, indem sie die Ereignisse ihres Lebens immer wieder so erzählen, dass daraus eine möglichst stimmige Geschichte wird. Mit dieser Geschichte identifizieren wir uns dann und nehmen an, dass sie mit uns als Person identisch ist.

Die Hölle, das sind die anderen

Wir fühlen uns gut, wenn diese Geschichte möglichst stimmig ist. Wenn sie Brüche aufweist, geht es uns nicht gut und wir können Traumata entwickeln. Aber wie können überhaupt Brüche in Geschichten über uns entstehen, die wir selbst erzählen? Problem ist, dass wir nicht alleine an unserer narrativen Identität arbeiten. Andere erzählen ja auch Geschichten über uns und mit denen werden wir dann identifiziert. Auch, wenn wir es nicht wollen. Und wenn andere uns Leid zufügen, ergeben sich natürlich auch Lebensereignisse, die nicht in unsere Geschichte passen und die wir auch nicht in unserer Identität haben wollen. Es tut uns also nicht gut, wenn wir selbst nicht entscheiden können, wer wir sind. Das meinte übrigens auch Sartre als er sagte „die Hölle, das sind die anderen“. Denn Sartre war der Ansicht, dass wir nur über unsere Taten an unserer Identität arbeiten können und die Geschichten würden dann die anderen darüber erzählen.

Aber zurück zu Transgender-Identitäten. Ich sagte ja schon, dass eine selbstbestimmte, konsistente narrative Identität Menschen zufrieden machen kann. Also, wenn man das Gefühl hat, dass alles, was man tut zu dem passt, was man selbst für richtig hält. Man kann also gerne Schmuck tragen, wenn man das möchte. Man kann sanft sein oder zielstrebig, wie es einem beliebt. Der Bruch in der Identität entsteht erst dann, wenn andere sagen: „hä, nee, du kannst aber nicht Schmuck tragen und sanft sein, du siehst doch aus wie ein Mann!“. Und da wir nun einmal eine sehr soziale Spezies sind, prallt so etwas nicht so leicht von uns ab. Wenn also genügend viele Leute genügend viele Eigenschaften einer anderen Person als unpassend klassifizieren, so kann das diese Person ganz schön unglücklich machen. Das kann so weit gehen, dass diese Person ihren eigenen Körper als unpassend empfindet. Die Hölle, das sind die anderen!

Die narrative Identität muss stimmig sein

Damit die Identität wieder konsistent wird, kann nun das Narrativ von dieser Person wieder in die eigene Hand genommen werden. Aus der Not kann eine Tugend gemacht werden und die Transgender-Identität kann als solche voll ausgelebt werden. Dafür ist es aber auch wichtig, dass es ein Wort und ein Konzept gibt, mit dem diese Lebensgeschichte beschrieben werden kann. Transgender oder genderfluid sind solche Worte. Damit kann man sich identifizieren. Oder aber man passt das an, was den Bruch in der Identität ausgelöst hat, nämlich die äußeren Merkmale. Wenn man diesen Weg gehen möchte, ist eine ärztliche Behandlung eine mögliche Lösung.

Seht ihr? Jetzt haben wir schon ganz schön lange über wissenschaftliche Ansätze zum Thema Transgender und Genderfluidität nachgedacht, ohne uns um biologische Aspekte zu kümmern. Und wenn ihr bis hier gelesen habt und dazu vielleicht auch noch Mais YouTube Folge angesehen habt, dann habt ihr jetzt bestimmt ein gutes Gefühl dafür bekommen, wie ein Thema von ganz unterschiedlichen Wissenschaften betrachtet und erklärt werden kann.

Wunderbare Lektüren mit genderfluiden, hermaphroditischen und trans-Identitäten

Aber dieser Blog hieße nicht „Lebe lieber literarisch!“ und wäre kein Literaturblog, wenn ich euch jetzt nicht noch ein paar Bücher mit auf den Weg geben würde, die auf die eine oder andere Weise Themen wie Gender, Trans-Identität und Genderfluidität verarbeiten. Als erstes kommt mir „Vielen Dank für euer Leben“ von Sybille Berg in den Sinn. Ein Buch über einen Menschen ohne biologische Geschlechtsmerkmale. Ein Protagonist, der keine stimmige narrative Identität finden kann, da es nirgendwo Identifikationsangebote für ihn gibt. Auch die Menschen um ihn herum, werden nicht schlau aus ihm. Und so lebt er ohne Halt ein zunehmend unglückliches Leben, dass von Sybille Berg äußerst eindrücklich geschildert wird. Ich möchte fast sagen, dies ist ein Buch, das man nie mehr vergisst.

Jeffrey Eugenides‘ „Middlesex“ ist fast schon so etwas wie ein moderner Klassiker und unbedingt eine Lektüre Wert. Es erzählt die Geschichte eines hermaphroditischen Menschen, der als Mädchen aufgezogen wird, sich dann aber entscheidet, als Mann zu leben. Dazwischen liegen natürlich viele Zwischenstufen und sehr viele interne Konflikte, die sehr genau zeigen, wie unsere westliche Kultur mit Genderfragen umgeht. Auch dies ist natürlich keine leichte Kost, aber eine Lektüre, die sehr zum Nachdenken anregt.

Kein Buch aber ein wunderbarer Film zum Thema Transgender ist „Transamerica“, in dem Felicity Huffman eine Trans-Frau spielt. Kurz vor ihrer Operation bekommt sie einen Anruf von ihrem jugendlichen Sohn (von dem sie nichts wusste). Sie soll für ihn bürgen, damit er nicht ins Gefängnis muss. Nach einigen Konflikten holt sie ihn ab und fährt ihn quer durch America, um ihn zu seinem Stiefvater zu bringen. Natürlich erleben sie viele spannungsgeladene, aber auch witzige und – es ist ein amerikanischer Film – auch rührende Momente. Umbedingt empfehlenswert, wenn du dich auf etwas leichtfüßigere Weise dem Thema nähern möchtest.

Das sind jetzt nur die ersten drei, die mir einfallen, aber ich bin sicher, auch du hast Kultur-Tipps zu diesem Thema, oder? Dann immer her damit! Ich bin gespannt drauf.

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