Buch-Tipp: Mr. Gwyn von Alessandro Baricco
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Seit ich seinen Roman „Seide“ gelesen habe, ist Alessandro Baricco einer meiner Lieblingsautoren. Nicht so einer wie Daniel Kehlmann, von dem ich alles lesen muss oder wie Marc-Uwe Kling, dessen Hörbücher, Lesungen, Gesellschaftsspiele und auch sonst alles in meinem Besitz sind. Nein, er ist eher so ein wenn-ich eines-seiner-Bücher-in-die-Finger-bekomme-lese-ich-es-da-ich-weiß-ich-werde-daran-Freude-haben-Autor. Und neulich bekam ich also Mr. Gwyn von Alessandro Baricco in die Hände. Und natürlich las ich es und hatte daran Freude. Aber nicht nur das, ich fand auch eine thematische Verknüpfung zu einem anderen Werk italienischer Gegenwartsliteratur, mit der ich nicht gerechnet hätte.
Ist Mr. Gwyn von Alessandro Baricco einer dieser Meta-Romane?
Schriftsteller, die über Schriftsteller schreiben – nicht besonders originell, oder? Aber in Mr. Gwyn von Alessandro Baricco geht es nicht um das Spiel mit der Meta-Ebene, auf der sich der wahre Autor mal kurz zeigt. Es geht nicht um die Unzuverlässigkeit literarischen Erzählens oder um sonst einen intellektuellen Kniff. Nein, es geht einfach um einen Schriftsteller, der nicht mehr Schriftsteller sein mag. Der die damit verbundene Öffentlichkeit seiner Person nicht schätzt, den Druck nicht mag. Er arbeitet zwar irgendwie gern mit seinem Verleger zusammen aber noch lieber hat er diesen als Freund, mit dem er nicht über seine Arbeit sprechen muss. Und so hört Mr. Gwyn, der Held dieser Geschichte, mit dem Schreiben auf.
Nur leider ist es so, dass das Schreiben kein Beruf ist, sondern ein inneres Bedürfnis. Mr. Gwyn muss schreiben, aber er will nicht veröffentlichen. Oh, und wahrscheinlich muss er auch ein wenig an seinen Lebensunterhalt denken. Und als unser Held eines Tages in einer Galerie ein Porträt entdeckt, möchte er so etwas auch machen: Porträtieren! Aber nicht einfach so, sondern genau so, wie dieser Maler es vermocht hat. Dem scheint es nämlich irgendwie gelungen zu sein, die gemalte Figur in all ihren Facetten zu zeigen. Die einzelnen Anteile der Persönlichkeit wieder zusammen zu setzen und die Person gleich mit. Das also möchte Mr. Gwyn auch machen, denn so kann er in seinem Schreiben auch wieder einen Sinn erkennen.
Der Schriftsteller als Maler
Trotz unserer multi- uns transmedialen Umwelt, denken wir noch immer gern in Kategorien. Maler sind Maler. Schriftsteller sind Schriftsteller. Und Filmemacher sind Filmemacher. Natürlich machen wir auch gerne Unterkategorien. Schriftsteller Schreiben Krimis, Liebesromane, Freundschafysgeschichten, Roadnovels und so weiter und so weiter. Und so versucht auch sein Freund und Verleger gleich eine neue Kategorie zu finden als Mr. Gwyn ihm sagt, dass er jetzt Porträts schreiben wolle. Aber unser Held hat gar nicht die Absicht, seine neuen Werke verlegen zu lassen. Er richtet sich statt dessen ein extravagantes Atelier ein und sucht zahlungskräftige Kunden, die sich porträtieren lassen. Natürlich fertigt Mr. Gwyn nur Akte an, ist klar. Und tatsächlich werden die Porträts zu einem ganz besonderen Besitz für ihre Käufer.
Also ganz konkret sieht das dann so aus, dass die Kunden für ein paar Tage oder Wochen regelmäßig in das Atelier von Mr. Gwyn kommen. Dort verbringen Sie ein paar Stunden mit dem Schriftsteller, der sie beobachtet. Im Anschluss schreibt er dann sein Porträt und schickt es ihnen als 7-8-seitigen Text zu. Und damit haben die Kunden dann einerseits die Erfahrung des Beobachtetwerdens im Atelier und das Schriftstück zum Aufbewahren und Betrachten bzw, Lesen für später.
Was ist der Mensch?
In der seltsamen Zweisamkeit des Ateliers geht etwas Komisches in den Porträtierten vor sich. Sie sind gleichzeitig einsam und nicht allein. Zuerst spüren sie die Anwesenheit des Schriftstellers sehr. Dann fühlen sie sich irgendwann sehr auf sich selbst zurück besinnt. Schließlich wollen sie unbedingt gesehen, angesprochen und sogar berührt werden. Die gut ausgewählten Kunden von Mr. Gwyn reißen sich meist zusammen. Sie haben alle gesellschaftlich vorgeprägte Manieren und unterwerfen sich den Regeln des Schriftstellers. Erleuchtung garantiert. Doch dann passiert ein Fehler. Mr. Gwyn nimmt aus Verbundenheit zu einem Kunden dessen Tochter auch als solche an. Diese befindet sich in einer rebellischen Phase. Und ohne zu viel verraten zu wollen: sie zerstört die schriftstellerische Porträtmalerei.
Obwohl wir uns hier handlungsmäßig erst in der Mitte des Romans befinden, sind wir schon an einem wichtigen Punkt angekommen. Denn Mr. Gwyns Ideen und Ideale wurden konterkariert. Er wollte die Menschen so zeigen, wie sie sind. Sie zu sich zurück führen. Aber in Wahrheit gelingt ihm das nur bei Menschen, die angepasst und von Zwängen beherrscht sind. Mit Unkonventionellem kommt er nicht gut zurecht. Und das als Porträtist. Und da er mit seinem Schreiben also doch nicht herausfinden kann, was den Menschen im Inneren zusammen hält, taucht er unter.
Mit „Mr. Gwyn“ von Alessandro Baricco bekommst du zwei zum Preis von einem
Doch selbst jetzt hört Mr. Gwyn nicht auf zu schreiben. Er veröffentlicht unter Pseudonym weiter Romane. Das wäre vielleicht nie aufgefallen, wenn er in einem davon nicht ein Porträt integriert hätte. Es ist das erste Porträt, dass er geschrieben hat und es geht um seine ehemalige Assistentin Rebecca. Und als sie entdeckt hat, dass das Pseudonym nur Mr. Gwyn gehören kann, stößt sie auf ein weiteres Porträt. Ein Selbstporträt des Schriftstellers. Integriert ist es in die Erzählung „Zwei im Morgengrauen“ und diese Erzählung bekommt der Leser in der deutschen Version des Romans gleich mit geliefert.
So aufgelöst
Es ist noch nicht lange her, dass ich hier über das Motiv der Auflösung geschrieben habe. Und wenn du diesen BlogBlog ist kurz für Web-Log und steht für ein online Publikationsformat. Man kann sowohl der als auch das Blog sagen. Es gibt Blogs aller Sparten, von Linklisten über Tagebuchartige Formate bis hin zu wissenschaftlichen Blogs. Die Veröffentlichung kann schnell und unkompliziert erfolgen oder redaktionellen Standards entsprechen. In den Geisteswissenschaften etablieren sich Blogs zunehmend als Alternative zur langwierigeren wissenschaftlichen Publikation. Lebe lieber literarisch ist ein populärwissenschaftlicher Literaturblog. Kurze Podcast-Folge zum Blog-Begriff: https://hnp9zs.podcaster.de/download/Podcast_Blog(1).mp3 More schon länger liest, dann weißt du schon, wie es in Mr. Gwyn von Alessandro Baricco umgesetzt ist. Für alle anderen sei hier nochmal gesagt, dass ein Charakter nicht bloß eine Figur ist. Ein Charakter ist alle Figuren einer Erzählung. Er ist jede Szene, jede Landschaft. Und er ist auch ist jedes Objekt. Er ist einfach alles. Und dieses Prinzip wird im Roman ziemlich gut beschrieben. Wenn man also gleich nach dem Roman „Zwei im Morgengrauen“ liest, so liest man es auf genau diese Art und Weise. Man erfasst einen Charakter durch alle Elemente der Geschichte. Genau das ist es, was diesen Roman so faszinierend macht: er lehrt einen, ganz anders zu lesen.
In Elena Ferrantes Büchern, in der die Auflösung meiner Meinung nach auch ein wichtiges Motiv ist, war sie noch eher angedeutet. Eine ihrer Figuren fühlt sich ab und zu wie aufgelöst und sieht auch die Konturen der anderen verschwimmen. Es gibt Namensspiele, sodass man als Leser manchmal nicht genau weiß, ob die beiden Hauptfiguren nicht eigentlich zwei Seiten eines Charakters sind. Bei Mr. Gwyn ist diese Idee weniger unterschwellig. Alles in einer Geschichte muss auf eine Person zurückführbar sein – das ist Mr. Gwyns porträtistisches Ideal. Das ist spannend zu lesen und das bringt einen zum Nachdenken. Darüber, ob hier ein neues Motiv in der Gegenwartsliteratur eingeführt wurde. Und auch darüber, ob Baricco vielleicht in Verbindung mit demjenigen steht, der sich hinter dem Pseudonym „Elena Ferrante“ verbirgt. Vielleicht sind sie ja Kollegen? Vielleicht finden sich Züge der Schriftsteller*in hinter dem Pseudonym in der Figur des Mr. Gwyn wieder. Ob nun für sich betrachtet oder als Teil einer Art neuer Schreibschule: Mr. Gwyn von Alessandro Baricco ist definitiv ein Roman, den ich dir nur ans Herz legen kann!