Über Sprachmacht
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Kennst du das? Du beginnst mit einem neuen Roman und plötzlich hast du schon 50 Seiten gelesen und weißt gar nicht, wann das passiert ist? Vielleicht ist es sogar so, dass dich das Thema des Buches gar nicht so richtig interessiert. Oder du findest die Figuren total unsympathisch. Na, dann hast du es wohl mit wahrer Sprachmacht zu tun. Was genau aber diesen Zauber ausmacht, darüber möchte ich heute mit dir nachdenken.
Sprachmacht, was soll das sein?
Ich gebe zu, das Wort Sprachmacht ist kein besonders präziser Begriff und das Phänomen ist nicht wirklich objektiv greifbar. Wahrscheinlich wirkt auf jeden Leser eine andere Art von Sprache mächtig. Was mich hier aber am meisten interessiert, ist die Art von Sprache, die einen in ihren Bann zieht, egal, was sie eigentlich ausdrückt. Dazu gehört dann natürlich auch die Art von Literatur, die massenweise gelesen wird, obwohl die Themen nicht neu, nicht spannend oder nicht sympathisch sind.
Für mich gehören einige Krimis z.B. auch wirklich zu den sprachmächtigsten Büchern, die ich kenne. Denn Krimi-Plots sind eigentlich immer gleich und trotzdem lesen so viele Menschen dieses Genre immer und immer wieder. Manche finden jegliche andere Literatur sogar langweilig. Bei einem doch eigentlich so eintönigen Genre ist das für mich mehr als nur ein wenig verwunderlich. Nicht, dass ich an dieser Stelle Krimis dissen möchte. Ich mag selber sehr gerne Krimis. Vor allem als Hörbücher und auch das hat natürlich etwas mit Sprachmacht zu tun. Da geht es allerdings meist um die Kraft von Stimmen. Und das ist natürlich ein etwas anderes Thema.
Also ist das Thema egal?
Die Idee, dass es eigentlich egal ist, worüber man schreibt, wenn man es nur so richtig gut hinbekommt, ist nicht neu. Dieser Blogpost eines Blogratgebers dreht sich z.B. um genau dieses Thema. Tatsächlich ging es mir selbst beim Lesen schon öfter so, dass ich vom Thema nicht wirklich begeistert war, vom Buch insgesamt aber schon. Das letzte Buch, bei dem das so war, war „Mittagsstunde“ von Dörte Hansen. Der Roman über ein Dorf in Nordfriesland ist wirklich wahnsinnig gut geschrieben. Eine solche Literarizität hätte ich dem Landstrich niemals zugetraut. Aber irgendwie funktioniert das auch nicht immer.
Manchmal ist ein Buch zwar gut geschrieben, aber das Thema geht einfach für einen persönlich gar nicht. Dann kann es sogar sein, dass man ein Buch erst gar nicht aufschlägt. Ich vermute, dass es mir mit Heinz Strunks „Der goldene Handschuh“ so gehen würde, bzw. ehrlicher Weise muss ich sagen so geht. Denn das Thema des sozial isolierten Serienmörders ist eines, von dem ich so schon weiß, dass ich es schlecht bis gar nicht aushalten würde. Ich würde also sagen, Sprachmacht funktioniert auch nur bis hin zur Themenbewertungskategorie „langweilig“. Stärker negativ bewertet darf es dann doch nicht sein.
Sprachmacht und Spannungsbogen
Nochmal zurück zum Thema Krimi. Ich habe da mal einen Dan-Brown-Roman gelesen, der mir ziemlich doll die Augen geöffnet hat. Es handelte sich dabei nicht um einen der mega-bekannten Robert-Langdon-Romane, sondern um ein früheres Werk namens Diabolus. Darin ging es um irgendwas mit Algorithmen und als ich es gelesen habe, war ich noch sehr jung und interessierte mich überhaupt nicht für solchen technischen Kram. Aber ich war Buchhändlerin und brauchte die Titelkenntnis. Das Interessante war, dass mich dieses Buch von der ersten bis zur letzten Seite gefesselt hat. Ich hab es verschlungen, weil es so spannend war. Trotzdem mir das Thema fremd war. Heute weiß ich, dass dieses Buch in Sachen Spannung wahrscheinlich erstklassiges Bestseller-Potential hatte. Schließlich habe ich inzwischen Archer und Jockers „Der Bestseller-Code“ gelesen. Spannung ist für mich also ein wichtiger Faktor von Sprachmacht. Aber es ist nicht alles.
Zwar war Diabolus ein Bestseller, aber es war nicht so ein mega Bestseller wie „Illuminati“, „Sakrileg“ und „Das verlorene Symbol“. Meiner Meinung nach hat Diabolus alles, was diese Romane auch haben: Das Spannungsverhältnis zwischen einer wunderschönen und hochintelligenten Frau und einem männlichen Protagonisten, ein Rätsel und einen unglaublich gut funktionierenden Spannungsbogen. Aber es bedient ein Nischenthema, nämlich technisches Insiderwissen. Die anderen Brown-Romane beinhalten stattdessen ein Thema, mit dem jeder etwas verbinden kann, nämlich Religion. Und das auch noch in seiner Extremform. Wir sehen also, Themen sind doch nicht unwichtig.
Keine Spannung, kein Massenthema und trotzdem mächtig
Ich möchte Dan Brown nicht abwerten, denn wie gesagt, habe auch ich seine Romane verschlungen, aber er ist literarisch vergleichbar mit einem richtig guten Handwerker. Er setzt die richtigen Bausteine – die schöne Intelligente und den männlichen Protagonisten, das Rätsel, die atemberaubende Spannung, usw. – stimmig zusammen und erbaut solide Fiktionen. Das hat natürlich eine gewissen Macht, aber diese ist auch ziemlich leicht durchschaubar. Was aber wirklich faszinierend ist, ist Literatur, die uns in Atem hält, obwohl sie nicht auf solche erzählerischen Erfolgsgaranten zurückgreift.
Mächtige Romane
Bücher, in denen durchschnittliche Protagonisten in langweiligen Landstrichen uns über hunderte von Seiten tragen, wie in Dörte Hansens „Mittagsstunde“. Oder Bücher, die uns dazu bringen, mit einer Protagonistin zu fühlen, die wir eigentlich gar nicht mal so sympathisch finden, wie z.B. Zadie Smiths „Swing Time“. Romane, die Leser*innen immer tiefer in Welten führen, die mit der eigenen Lebenswelt herzlich wenig zu tun haben, wie z.B. Elena Ferrantes neapolitanische Saga. Diese mächtigen Romane, deren Zauber ich hier weder wegerklären will noch kann, sind es, die mich ehrfürchtig machen vor den wahren Sprachkünstler*innen. Und gerade weil ich mir nach wie vor kein bisschen erklären kann, was diese Sprachmacht eigentlich ausmacht, interessiert mich heute besonders, was du zu diesem Thema zu sagen hast. Ich freue mich auf deinen Kommentar!