Immer mehr zu sagen? Netzwerkanalyse von Frauen und Männern in deutschen Dramen
Inhalt / Content
Netzwerkanalyse ist ein faszinierendes Verfahren, das sich ganz wunderbar in der Literaturwissenschaft einsetzen lässt. Das Zauberhafte daran ist, dass es die Vielschichtigkeit von Literatur auf ganz simple Weise darstellt. Dadurch bekommen wir fast schon eine Ahnung davon, wie wir Geschichten eigentlich mental durchdringen. Warum das so ist, das möchte ich euch heute in einer kleinen Fallstudie zeigen. Darin geht es darum, wie Frauen und Männer zu Wort kommen konnten in den Dramen des 18. und in den Dramen des 19. Jahrhunderts.
Über die Gemeinsamkeit von Netzwerken und halbdurchsichtigen 3D-Interfaces
Ich bin ein großer Fan von Superhelden-Comic-Verfilmungen. Und wenn du das auch bist, ist dir vielleicht schon einmal aufgefallen, dass immer dann, wenn gezeigt werden soll, dass jemand so richtig die neueste Technik hat, Folgendes passiert: Hauptfigur xy oder assistierender Wissenschaftler gibt ein Handzeichen und es erscheint ein halbdurchsichtiges 3D-Interface, durch das man hindurch gehen kann und das auf Handzeichen (meistens Wischen und Wedeln) reagiert. Ich kann mir, ehrlich gesagt, nicht vorstellen, dass ein solches Interface-Design auch nur annähernd praktisch ist (den halbdurchsichtigen Kram kann doch keiner richtig erkennen) . Aber abgesehen davon freue ich mich immer, wenn ich ein solches Interface entdecke. Es erinnert mich nämlich immer ein wenig an Netzwerkanalyse.
Wie ich auf diese Assoziation komme? Naja, ich glaube, dass beide – das halbdurchsichtige 3D-Interface und das Netzwerk – Versuche sind, sich unserer Art zu denken anzunähern. Denn wir denken nicht zweidimensional oder sogar nur linear wie in einem Text, sondern ziehen ständig neue Schlüsse, verknüpfen neu Gehörtes mit Bekanntem usw. Ich bin, wie gesagt, nicht sicher, ob halb durchsichtige 3D-Interfaces wirklich sinnvoll sind. Die Netzwerkanalyse ist es aber auf jeden Fall und das möchte ich euch heute gerne zeigen.
Netzwerkanalysen hunderter Dramen online
Ich habe mich in letzter Zeit etwas näher mit der Netzwerkanalyse als Methode der Literaturwissenschaften auseinander gesetzt. Dabei bin ich auf ein wunderbares Projekt gestoßen. Es heißt DraCor und ist eine Datenbank mit hunderten von deutschen, russischen und englischen Dramen. Alle diese Theaterstücke sind für die Netzwerkanalyse vorbereitet. Man kann sich die Dramen-Netzwerke direkt bei DraCor ansehen oder die Daten herunterladen. Ich habe das Letzte gemacht und dabei ist mir aufgefallen, dass mit den Daten noch vielschichtigere Netzwerke erstellt werden können als auf der Webseite zu sehen sind.
Frauen kommen in deutschen Dramen des 18. Jahrhunderts wenig zu Wort
Als ich mir das Netzwerk zu Lessings „Emilia Galotti“ angesehen habe, stach mir ins Auge, dass dort zu jeder Figur auch „Gender“ und „Anzahl gesprochener Wörter“ hinterlegt war. Als ich die Einstellungen so verändert hatte, dass diese Werte sichtbar wurden, war ganz klar zu sehen, dass die Frauenfiguren in diesem Drama sehr viel weniger zu sagen haben als die männlichen. Aber sieh selbst:
Okay, naja, na gut, habe ich mir gedacht, in diesem Drama geht es ja auch gerade um die Macht, die der Prinz und sein Diener auf Emilia und ihre Familie ausüben. Ich habe mir also noch andere Dramen angeschaut. Da Emilia Galotti im Jahr 1772 Premiere hatte, habe ich mir Texte aus der gleichen Zeit herausgesucht. Genauer gesagt 10 Dramen, die zwischen 1770 und 1775 Premiere feierten.
Puh, also insgesamt geht’s da schon ganz schön lila zu. Aber es gibt ja auch durchaus Dramen, in denen weibliche Figuren mehr zu sagen haben. Es fällt allerdings auf, dass diese Dramen sich oft auf wenige Figuren beschränken. Es ist zu vermuten, dass je mehr Figuren auftreten, desto mehr werden gesellschaftliche Strukturen abgebildet. Und desto weniger kommen Frauen zu Wort. Liegt der Fokus eines Dramas aber auf familiären, Zweier- oder Viererbeziehungen, so wiegt die weibliche Figurenrede schwerer. Ein Extremfall ist natürlich Medea, ein Drama, in dem es ausschließlich um die weibliche Hauptfigur und ihre (fehlgeschlagenen) familiären Beziehungen geht.
Dominanz männlicher Figuren – ein Zeitphänomen?
Ok, nehmen wir also an, dass die gesellschaftliche Dominanz männlicher Worte auch ein Zeitphänomen ist, so ist es wichtig, nun einmal einen kurzen Blick in eine andere Zeit zu werfen. Wir betrachten dazu 12 Dramen, die zwischen 1870 und 1875 Premiere hatten, also genau 100 Jahre später.
Hm, also so richtig gewendet hat sich das Blatt hier irgendwie noch nicht. Zwar gibt es auch hier einige Stücke, in denen die Netzwerkanalyse zeigt, dass Frauenfiguren mehr reden als männliche; Dramen von Anzengruber und Mosenthal vor allem. Doch in den meisten Netzwerken werden männliche Figuren größer angezeigt. Sie sprechen also mehr. Es fällt auch auf, dass es insgesamt viel mehr Männerfiguren und viel weniger Frauen gibt. Meine Idee, dass mit der Zeit Frauen in Dramen mehr und mehr zu Wort kommen, wird von diesen Stichproben nicht gestützt.
These falsifiziert – und nun?
Dafür fällt auf, dass in den Dramen, die zwischen 1870 und 1875 Premiere feierten insgesamt mehr Figuren auftreten. Sozusagen ein Nebenbefund, dem man jetzt näher nachgehen könnte. Und auch die These mit der weiblichen und männlichen Figurenrede könnte man natürlich mit größeren Stichproben weiter verfolgen. Beides würde jetzt hier zu weit führen. Aber vielleicht fühlst du dich ja berufen, hier weiter zu machen?
Ein voll durchsichtiges Gebilde in unseren Köpfen
Eines hat dieser kurze Ausflug, der nicht mehr als ein Kratzen an der Oberfläche sein konnte, auf jeden Fall gezeigt. In Netzwerkanalysen können gleichzeitig mehrere Aspekte betrachtet werden. Die Farbe (hier lila für Männer, gelb für Frauen), die Größe der Punkte (hier Anzahl gesprochener Wörter), die Farbe und Dicke der Verbindungen (hier gar nicht betrachtet) – jedes grafische Element kann für eine andere Informationsebene stehen. Und damit zeigt Netzwerkanalyse vielleicht etwas, das beim Lesen auch im Kopf passiert.
Unterschiedliche Aspekte werden miteinander verknüpft. Beim Lesen nehmen wir höchsten unterbewusst wahr, dass Frauenfiguren buchstäblich weniger zu sagen haben als Männer – aber die Netzwerkanalyse macht so einen Eindruck sichtbar. Beim Lesen bemerken wir nebenbei wie stark eine Figur sich im Laufe eines Stückes mit anderen verknüpft und ihre Ränke schmiedet – die Netzwerkanalyse macht es sichtbar. Ausgehend von einer bestimmten Grundhaltung, wie z.B. meinem Fortschrittsoptimismus, der mich glauben ließ, Frauen kämen in deutschsprachigen Dramen mehr und mehr zu Wort, ziehen wir Schlüsse – vergleichende Netzwerkanalyse mehrerer Texte kann sichtbar machen, dass man sich irrt.
Darum lohnt sich Netzwerkanalyse immer
Damit ist die Netzwerkanalyse eine vergleichsweise einfache und doch so mächtige Methode. Sie schillert nicht wie die halbdurchsichtigen Interfaces in Comic-Verfilmungen und doch gibt sie uns genauso wie diese eine Idee davon, wie wir mit Informationen umgehen. Last but not least können Netzwerke deine Interpretationsansätze in Hausarbeiten stärken oder – wie bei mir hier – eben auch zeigen, dass du dich irrst. Wenn du also auf Nummer sicher gehen willst, empfehle ich dir auf jeden Fall, Netzwerkanalyse einzusetzen. Es lohnt sich!
Ein Kommentar
Pingback: