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Belletristik-Rezension: Meine ganz persönliche literarische Entdeckung des Jahres 2013 – Michael Weins „Delfinarium“

Es gibt diese seltenen Momente im Leben eines Lesenden, in denen offenbar wird, dass man gerade eine Entdeckung gemacht hat. Schon die ersten Zeilen in Michael Weins‘ „Delfinarium“ ließen in mir dieses Gefühl aufkommen. Hier hielt ich etwas ganz Besonderes in Händen. Dabei hatte mich keine Kritik oder Empfehlung zu diesem Roman gebracht; nein, ich habe ihn ganz alleine in der kleinen Hamburg-Ecke in der Bibliothek gefunden. Und wie das dann meistens bei solchen literarischen Schätzen ist – man möchte sie nie aus der Hand legen und hat sie dennoch in drei Tagen verschlungen. Am liebsten würde ich dir zu diesem Roman nichts weiter Sagen als „lies ihn, du wirst keine Minute bereuen“, doch natürlich weiß ich, dass du etwas mehr an Erklärung verdient hast.

Ein Junge, eine Frau und ein Delfinarium – darum geht’s in Michael Weins‘ „Delfinarium“

Der Protagonist in Michael Weins‘ „Delfinarium“ ist der 20-jähriger David Martin. Dem Gedanken, etwas mit seinem Leben anfangen zu müssen, verweigert er sich einfach. Um sich trotzdem ein wenig Taschengeld zu verdienen, nimmt er einen eigenartigen Job an. Er soll die Frau eines Nachbarn ins Delfinarium im Hamburger Zoo Hagenbeck’s begleiten. Ja, das gab es wirklich. Als ich klein war, hatte Hamburg noch ein Delfinarium mit ziemlich depressiven Delfinen. Ich erzähle das hier nur, weil es einer gewissen Ironie nicht entbehrt, dass die durch die Gefangenschaft seelisch kranken Tiere in diesem Roman einziger Hoffnungsschimmer einer seelisch kranken Frau sind. Aber weiter in der Geschichte dieses Romans!

Seit der Geburt ihres Sohnes, nach der sie für 7 Minuten ins Koma fiel, spricht die Frau, die der Protagonist betreuen soll, nicht mehr. Sie kümmere sich um sich selbst, aber weder um ihn noch um ihren Sohn, erklärt ihr Ehemann beim Vorstellungsgespräch. Das Delfinarium ist der einzige Ort, an dem sie sich noch wohl zu fühlen scheint. Für Daniel hört sich das nach leicht verdientem Geld an. Doch dann taucht im Delfinarium plötzlich ein Mann auf, der behauptet, der eigentliche Ehemann seines Schützlings Susann zu sein.

Eine Frage der Identifikation

Von diesem Moment an beginnt die Geschichte, sich zuzuspitzen. Daniel lässt sich auf die Ausführungen des Fremden ein. Er organisiert eine heimliche Gegenüberstellung. Gleichzeitig werden seine eigenen Identitätssorgen drängender. Er wartet darauf, dass die stumme Susann ihn zur Lösung ihres Rätsels führt, doch wie auch allem anderen verweigert sie sich diesem Wunsch. Daniel will unbedingt herauskitzeln, wer diese Frau ist und kommt dadurch auch selbst immer mehr in einen Identifikationszwang. Denn je mehr Susann sich weigert, ihre Identität preiszugeben, desto drängender wird die Frage nach seiner eigenen. Schließlich realisiert er, dass sowohl er als auch Susann, selbst und immer wieder neu entscheiden können, wer sie eigentlich sein wollen.

Alte Fragen in einem alten Land

Der Erzählstil dieses Romans mischt auf eigentlümliche Weise eine schlichte, unprätentiöse Sprache mit beinahe mystischen oder zumindest märchenhaften Elementen. Michael Weins geht von einer ganz gegenwärtigen Generation aus, die die Orientierung im Strom der Möglichkeiten verloren hat. Diese situiert er in einem Landstrich, der schon vom Namen her mystisch wirkt, dem alten Land südlich von Hamburg in einem Dorf am Deich nahe Finkenwerder. Dort lässt er nicht nur sehr real gestaltete Figuren wie Daniels Freundin Petra auftauchen, die sich politisch für den Erhalt ihrer Heimat engagiert, sondern lässt sich auch den Oberalten vom alten Land manifestieren, der nur innerhalb einer kollektiven Erinnerung zu existieren scheint.

Die Verknüpfung von Vergangenheit und Gegenwart, Mystik und Realität, sich-selbst-Erfinden und gefunden-werden sorgt dafür, dass dieser Roman total zeitlos erscheint. Die ewigen Fragen nach Heimat und Identität, Herkunft und eigenem Handeln werden hier ruhig und unprätentiös gestellt und größtenteils nicht beantwortet. Egal ob die Figuren jung sind wie Daniel oder im mittleren Alter wie Susann oder bereits älter wie Daniels Vater – jeder scheint diesbezüglich haltlos zu sein. Noch nicht einmal der Oberalte vom land kann hier Orientierung bringen.

Michael Weins „Delfinarium“ – Unbedingt lesen!

Michael Weins „Delfinarium“ ist ein lebenskluger Roman, der kein bisschen kitschig ist. Hier werden keine Antworten liefert und gerade darum hilft er so sehr beim Nachdenken. Die wirklich berührenden Geschichten die er erzählt von Menschen, die den Bezug zur Realität verloren haben, konfrontieren die Lesenden mit den eigenen Lebens- und Identitätsfragen. Denn hier zeigt sich was passiert, wenn man vor lauter Handlungsbedarf einfach gar nichts tut. Oder wenn man sich und seiner Umwelt vormacht, nach wie vor mit einem früheren Ich identisch zu sein, obwohl das Leben schon vor langer Zeit eine entscheidende Wendung genommen hat. Eine Wendung, die man vielleicht lieber ungeschehen machen möchte.

So bleibt man als Leser also am Ende mit vielen Fragen zurück und doch spürt man, dass man gerade Teil einer besonderen Welt geworden ist; einer Welt, in der Delfine Frauen glücklich und Männern Angst machen. Eine Welt, in der junge Mädchen ihren Weg nach oben suchen und Jungs in Schockstarren fallen und in der Mütter ihre Kinder hinter sich lassen, um ein Leben zu haben. Ich könnte noch stundenlang weiter darüber nachdenken, was dieser Roman alles für mich ist, aber ich denke, dass ich nun zu meinem ersten Impuls zurückkehren sollte und euch nur noch sagen kann: Lies diesen Roman, du wirst es nicht bereuen, denn er ist etwas ganz Besonderes!

Weins, Michael: Delfinarium. Mairisch 2009. ISBN 978-3-938539-11-8. 17,90€

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