Gemeinsam digital annotieren
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Hand auf’s Herz! Wie stellst du dir einen prototypischen Literaturwissenschaftler vor? Eher so heimlich still und leise im Kämmerlein? Oder als Teilnehmer einer Art LAN-Party der 90er Jahre in einem schummerigen, nur vom Licht von 5-10 Laptops erleuchteten Raum. Jeder hat hinter sich eine viereckige Pappschachtel mit Pizza liegen und ab und zu werden alle Laptops beiseite gestellt und man diskutiert sich die Köpfe heiß (ja, sorry, ich war selbst nie auf einer LAN-Party 😉 )? Natürlich ist beides arg übertrieben, aber ich schätze, das erste Bild ist trotzdem immer noch bei Vielen tief im Stereotypen-System verhaftet. Darum möchte ich heute davon berichten, wie interessant es sein kann, gemeinsam digital zu annotieren.
Nun treffen wir digitalen Geisteswissenschaftler*innen als DIE Nerds der Literaturwissenschafts-Szene uns in Wahrheit auch eher selten zu Parties, auf denen man den Laptop mitbringen muss. Aber wir nähern uns gerne mal gemeinsam einem Forschungsgegenstand und damit meine ich jetzt nicht das gemeinsame Schreiben von Artikeln, sondern die tatsächliche Kernarbeit. Wir sehen einen großen Gewinn darin, gemeinsam digital zu annotieren. Warum das so ist, möchte ich dir heute zeigen.
Was ist digital annotieren
Aber erst einmal ein kurzer Schritt zurück. Wenn du dich noch nie mit digitalen Geisteswissenschaften beschäftigt hast, fragst du dich bestimmt, was es um Himmels Willen bedeutet „digital zu annotieren“. Nun, als Geisteswissenschaftler*in weißt du natürlich, dass Annotieren nichts anderes ist, als einen Text beim aufmerksamen Lesen (Close ReadingAls Close Reading wird in den Geisteswissenschaften die Technik des sehr genauen Lesens bezeichnet. Oft werden dabei Passagen im Hinblick auf mehrere Bedeutungszusammenhänge interpretiert. Kurze Podcast-Folge zum Close Reading: https://hnp9zs.podcaster.de/lebelieberliterarisch/was-ist-eigentlich-close-reading/ More) mit Unterstreichungen und Anmerkungen zu versehen. Eine uralte Kulturtechnik, die uns dabei hilft, uns Inhalte lesend zu erschließen und diese auch langfristig zu behalten. Statt Bleistift und Textmarker kannst du aber auch Annotations-Software wie z.B. CATMA nutzen (das ist übrigens das Programm, das in dem Projekt weiter entwickelt wird, in dem ich derzeit arbeite). Der größte Vorteil des digitalen Annotieren per se ist, dass das Programm sich jede deiner Anstreichungen merkt, und dass du dir diese am Ende automatisch ausrechnen lassen kannst. Du kannst dir mit diesen quantitativen Daten dann schöne Visualisierungen erstellen.
Gemeinsam digital annotieren
Ein weiterer Vorteil vieler Annotationsprogramme ist, dass du sie kollaborativ, also gemeinsam mit anderen, nutzen kannst. Jeder kann in seinem Tempo und wann immer es ihm passt, seine Annotationen eingeben. Die anderen Annotatoren können die Anmerkungen ein- und ausschalten und sie so in Echtzeit oder erst später anschauen. So kann man sich z.B. wunderbar aufteilen, wenn man gemeinsam eine Hausarbeit schreiben muss und jeder einen eigenen Aspekt bearbeiten soll. Oder alle können alle vorher festgelegten Aspekte markieren und später schaut man dann, was dabei rausgekommen ist. Beides kann ausgesprochen interessant sein.
Warum gemeinsam digital annotieren schrecklich ist – und herrlich
Als ich während meines Studiums zum ersten Mal dazu „gezwungen“ wurde, gemeinsam einen Text mit Hilfe von CATMA zu annotieren, fand ich das ziemlich schrecklich. Wir waren zu Dritt. Mit einem Kommilitonen war ich gut befreundet, wir hatten schon viel zusammen gearbeitet und waren ziemlich gut aufeinander eingespielt. Der Dritte im Bunde war unheimlich nett, hatte aber einen ziemlich andere Herangehensweise als wir. Wir hatten uns ein einfaches, unstrittiges Thema herausgesucht. Dachten wir. Wir wollten Orte und Räume betrachten und darum solche in einem Erzähltext annotieren.
Nun, wir hatten uns getäuscht. Es war gar nicht so leicht, Orte und Räume zu markieren, denn man kann diese scheinbar einfache Kategorie ziemlich unterschiedlich definieren. Und wir waren uns gar nicht immer einfach, wie wir unser Thema eigentlich verstehen wollten. Also diskutierten wir gefühlt endlos über kleinste Beispiele. Es war anstrengend. Aber auch ziemlich interessant. Denn alleine wären wir nie auf die Idee gekommen, dass drei Menschen sich so uneinig darüber sein könnten, was Orte und Räume eigentlich sind. Wer weiß, vielleicht wurde hier schon der Grundstein für meine eigene Doktorarbeit gelegt, die ich übrigens über Orte und Räume in Romanen schreibe.
Ein Beispiel
Klingt alles erst einmal nicht uninterressant. Aber du fragst dich jetzt bestimmt, wie das genau aussehen kann, wenn man einen literarischen Text gemeinsam annotiert. Keine Sorge! Ich habe natürlich ein Beispiel mitgebracht. Wir haben bei forTEXT, dem Projekt, in dem ich derzeit mitarbeite, eine Fallstudie zu Emilia Galotti gemacht. Das Drama war ja auch schon Teil meiner Betrachtungen zur digitalen Netzwerkanalyse. Für den Einsatz digitaler Methoden in der Schule, wollten wir dieses Mal testen, was passiert, wenn zwei Annotatorinnen unabhängig voneinander „Emilia Galotti“ nach Gender-Stereotypen taggen. Warum Gender-Stereotype? Wir brauchten eine Kategorie, unter der sich jeder intuitiv etwas vorstellen kann, die aber gleichzeitig in höchstem Maße von Interpretationen abhängt. Und spannend sollte diese Kategorie natürlich auch sein; vor allem für Jugendliche. Wir überlegten uns dazu die Arbeitshypothese, dass weibliche Stereotype vor allem über Äußerlichkeiten funktionieren, während männliche Stereotype eher von Eigenschaften abhängen. Unsere Kategorien-System sah so aus:
Die Vorgaben
Wie du schon an unserem Kategorien-System erkennen kannst, sollte die Aufgabe möglichst einfach sein. Eben so, dass sie auch für den Einsatz in der Schule denkbar wäre. Wir haben zwei wunderbare studentische Hilfskräfte für die Aufgabe eingespannt. Beide sind Literaturstudentinnen, die kurz vor ihrem Master-Abschluss stehen. Und beide sind bereits erfahren in der digitalen Annotation. Wenn man nicht gerade betrachten möchte, wie stark Annotationen voneinander abweichen können, ist es ratsam, sich im Annotatoren-Team genaue Vorgaben zu überlegen. Denn Ziel ist es ja eigentlich, zu einem über-individuellen Ergebnis zu kommen. Wir haben dagegen, einfach mal gar keine Vorgaben gemacht (abgesehen natürlich von den Kategorien). Wir wollten ja gerade, die Individualität der Ergebnisse auf die Spitze treiben.
Die Auswertung
Schauen wir uns erst einmal an, was herauskommt, wenn man die Annoationen beider Studentinnen zusammen auswertet. Achtung, verwirrender Weise werden hier Eigenschaften einmal blau, einmal schwarz angezeigt (ein kleiner Bug im Programm, der für mich unerklärlich ist). Die Visualisierung zeigt: Gender-Stereotype werden unabhängig vom Geschlecht der Figur häufiger über Eigenschaften als über Äußerlichkeiten ausgedrückt. Aber: Weibliche Figuren werden in Emilia Galotti zunächst über Äußerlichkeiten eingeführt. Erst später, vor allem zum Schluss, sind ihre Eigenschaften dann wichtiger. Aber sieh selbst:
Nun zu den beiden Einzelergebnissen. Studentin 1, nennen wir sie einfach mal Kristin, komme zu einem ähnlichen Ergebnis wie dem der Gesamtauswertung. Gender-Stereotype werden in Emilia Galotti eher über Eigenschaften als über Äußerlichkeiten konstruiert. Zu Beginn gibt es aber eine Szene, in der es sehr stark um äußerliche Stereotype der Frauenfiguren geht. Am Ende des Stückes werden stereotyp-weibliche Eigenschaften sehr wichtig. Wenn du nun mal links auf die Zahlenwerte schielst, siehst du aber etwas Auffälliges. Kristins Maximalwerte liegen bei 8-9 Annotationen pro Abschnitt (die Abschnitte sind übrigens jeweils 10% der Textlänge). Kristin hat insgesamt 66 weibliche Stereotype gefunden und 40 männliche Stereotype.
Studentin zwei, nennen wir sie Klara, hat insgesamt 268 weibliche Stereotype gefunden und 267 männliche. Aber auch Klara hat die herausragende Bedeutung weiblicher und männlicher stereotyper Eigenschaften am Ende des Dramas erkannt. Für alle, die das Stück nicht kennen, es geht hier am Ende darum, dass Emilia sich von ihrem eigenen Vater töten lässt, um ihre Ehre zu bewahren. Zuvor war sie vom Kammerherrn des Prinzen entführt worden. Der Prinz hatte sich nämlich sehr unglücklich in sie verliebt. Weniger stark ausgeprägt ist bei Klara, die Einführung weiblicher Stereotype über Äußerlichkeiten zu Beginn des Stückes. Doch eine leichte Tendenz dazu zeigt auch die Visualisierung ihrer Daten:
Die Erkenntnis
Es ist eindeutig. Um gemeinsam digital annotieren zu können, ist es wichtig, genaue Definitionen zu finden. In diesem Falle kreist natürlich alles um eine Frage. Was sind Stereotype? Denn klar ist, dass sowohl Kristin als auch Klara es erkennen, wenn eine Figur äußerlich oder über ihre Eigenschaften beschrieben wird. Der Unterschied muss also darin liegen, dass Kristin sehr viel weniger Textstellen als stereotyp in Bezug auf die Geschlechter-Beschreibung der Figuren bewertet. Sie interpretiert „stereotyp“ offensichtlich anders als Klara. Kristin sieht relativ wenige der Äußerlichkeiten und Eigenschaften, mit denen Figuren in Lessings „Emilia Galotti“ bedacht werden als Gender-Stereotype.
Je mehr man darüber nachdenkt, desto mehr fällt einem auf, dass so im alltäglichen Sprachgebrauch, „stereotyp“ tatsächlich ein eher schwammiger Begriff ist. Wir haben an dieser Stelle unsere Fallstudie ruhen lassen, aber natürlich hätten wir noch weiter gehen können. Wir hätten Kristin und Klara bitten können, ihre Ergebnisse zu diskutieren und zu einem gemeinsamen Begriff von „Stereotyp“ zu kommen. Dann hätten wir diesen mit Literatur aus der Gendertheorie abgleichen können.
Über Interpretation in den digitalen Geisteswissenschaften
Es gibt das hartnäckige Gerücht, in den digitalen Geisteswissenschaften würde man versuchen, objektive „Ergebnisse“ produzieren. Das hängt wahrscheinlich damit zusammen, dass wir sehr stark datenbasiert arbeiten. Aber tatsächlich sind uns zwei Dinge ziemlich klar. Erstens gibt es keine literaturwissenschaftlichen Daten, die ohne Interpretationen erstellt werden können. Zweitens werden unsere Methoden uns immer wieder an den Punkt führen, an dem wir unsere Interpretationen (die zu unseren Daten geführt haben) überdenken müssen. Zum Beispiel wenn ein Tool nicht das Output liefert, das wir erwartet haben. Dann müssen wir uns fragen, Warum. Oder wenn wir eine Visualisierung vor uns haben, dann müssen wir uns fragen, was diese uns eigentlich vermitteln kann. Und bereits ganz am Anfang eines Projektes müssen wir uns fragen, mit welchen Tools wir eigentlich unserer Frage nachgehen können und warum. Dabei interpretieren wir ständig.
Die Frage, inwiefern Gender-Stereotype mit Hilfe von digitaler Literaturwissenschaft näher beleuchtet werden kann, haben wir damit natürlich noch lange nicht beantwortet. Aber ehrlich gesagt, hat diese Fallstudie mich unter anderem dazu gebracht, über diese Frage nachzudenken. Ja, es juckt mich mal wieder in den Fingern. Mein Kopf sprudelt vor Ideen zu neuen Fallstudien. Und ich habe tatsächlich auch schon angefangen, mich in die Tiefen der Gendertheorie vorzuwagen. Denn eins ist mir jetzt klar: Wir brauchen einen stärker theoretischen Ansatz, um dieser Frage näher zu kommen. Für dich heißt das, dass du dich auf mehr Artikel zum Thema Gender freuen darfst. Es wird damit kulturwissenschaftlich auf diesem BlogBlog ist kurz für Web-Log und steht für ein online Publikationsformat. Man kann sowohl der als auch das Blog sagen. Es gibt Blogs aller Sparten, von Linklisten über Tagebuchartige Formate bis hin zu wissenschaftlichen Blogs. Die Veröffentlichung kann schnell und unkompliziert erfolgen oder redaktionellen Standards entsprechen. In den Geisteswissenschaften etablieren sich Blogs zunehmend als Alternative zur langwierigeren wissenschaftlichen Publikation. Lebe lieber literarisch ist ein populärwissenschaftlicher Literaturblog. Kurze Podcast-Folge zum Blog-Begriff: https://hnp9zs.podcaster.de/download/Podcast_Blog(1).mp3 More. Aber es bleibt natürlich immer digital.
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