Was machen Nietzsches Texte da bei den theoretischen Texten von Lou Andreas-Salomé? Diese stilometrische Analyse zeigt erstaunliches über das Verhältnis der beiden Schreibenden. #Literatur #Philosophie #DigitalHumanities
Digital Humanities

Freundschaft, Liebe, Zusammenarbeit – was zeigt uns diese stilometrische Analyse?

Wie du weißt, wenn du diesen Blog regelmäßig liest, war ich vor Kurzem beim Coding Gender Hackathon der Staatsbibliothek Berlin. Dort habe ich mich eingehend mit Lou Andreas-Salomé beschäftigt (auch das weißt du vielleicht schon). Unter anderem habe ich eine stilometrische Analyse ihrer Texte im Vergleich zu denen ihrer Zeitgenossen durchgeführt. Dabei ist mir etwas Interessantes aufgefallen, von dem ich dir heute berichten möchte.

Lou Andreas-Salomé und Friedrich Nietzsche - wie sehr haben diese beiden einander inspiriert? Diese stilometrische Analyse zeigt Erstaunliches über die beiden Schreibenden, die weit mehr als nur ihre Arbeit verband. #Literatur #Philosophie #DigitalHumanities

Bei einer ersten Ähnlichkeitsanalyse zeigte sich nämlich konstant eine Nähe ihrer theoretischen Texte zu einigen Schriften von Nietzsche. Ihre Erzähltexte schienen hingegen denen von Rilke zu ähneln. Nun waren Nietzsche und Rilke enge Freunde, ja sogar Geliebte von Andreas-Salomé. Aber was heißt das nun? Wurde sie von den beiden inspiriert? Hat sie Texte der beiden wie in einem Mashup in ihre eigenen integriert oder vielleicht ausführlich zitiert? Da die zwei Tage des Hackathons natürlich nicht ausreichten, um solchen Fragen intensiv nachzugehen, habe ich mir das im Nachhinein mal näher angesehen.

Was ist eine stylometrische Analyse?

Stilometrie ist zunächst einmal einfach eine Forschungsrichtung, die sich mit Autorenstil beschäftigt. Die Frage danach, welche Charakteristika die Werke eines Autors oder auch einer Autorengruppe oder ganzen Zeitspanne ausmachen, steht hier im Mittelpunkt. Wie bitte, was? Wirst du als Geisteswissenschaftler*in jetzt bestimmt denken. Der Autor ist doch tot, hinter dem Werk verschwunden, finito! Machen wir jetzt etwa Barthes und Foucault und alle ihrer Art „rückgängig“? An den Anführungszeichen merkst du natürlich schon, dass ich nicht glaube, dass das der Fall ist. Zwar ist der Autor bei der Betrachtung von Stil natürlich nicht unwichtig. Aber was zählt, ist eben nicht sein Leben, seine Psyche oder war er uns vermeintlich sagen will, sondern seine Sprache. Die Besonderheiten seiner Texte gegenüber anderen, die sind es, die zählen. Dass man über Stilanalysen auch Autoren anonymer Texte ausfindig machen oder bestätigen kann, stimmt zwar, ist aber nur ein Aspekt eines weiten Feldes.

Nun geht es mir heute aber nicht um die Lehre vom literarischen Stil allgemein, sondern um die digitale stilometrische Analyse. Wenn du mich ein wenig kennst, war dir das natürlich schon klar. Die Besonderheit der digitalen Stilometrie ist, dass sie Ähnlichkeitsphänomene vor allem auf Basis statistischer Häufigkeiten betrachtet. Die kann man unterschiedlich definieren, z.B. als Worhäufigkeiten. Häufigkeiten von Buchstabenkombinationen funktionieren erstaunlicher Weise auch sehr gut. Und Häufigkeiten von Wortkombinationen auch. In dieser Betrachtungsweise wäre es also nicht so zentral, dass Goethe seltene Wörter wie Wolkenkuckucksheim nutzte. Dafür wäre sehr entscheidend, wie oft er häufige Wörter wie und, der oder ich verwendete.

Welche Statistiken stecken dahinter?

Ich erspare dir hier eine ausführliche Beschreibung der statistischen Formeln, die für stilometrische Analysen wichtig sind. Ich gehe auch nicht weiter darauf ein, an welche literaturwissenschaftliche Traditionen die Methode anknüpft. Dazu erfährst du nämlich eine ganze Menge in Texten wie dieser Methodenbeschreibung. Um die Fallstudie, die ich hier beschreibe, zu verstehen, ist es aber wichtig, dass du ein paar Dinge über die Statistiken im Hintergrund weißt. Das Tool, mit dem ich arbeite heißt Stylo und ist als sogenanntes Package für das Statistik-Programm R implementiert. Man kann damit unterschiedliche Analysen durchführen, aber für die meisten ist das statistische Distanzmaß Delta zentral. Es gibt unterschiedliche Delta-Formeln, aber alle berechnen den Abstand zwischen zwei Größen.

Ganz unmathematisch und konkret für die Textanalyse bedeutet das, dass für jedes Wort in einem Text zuerst eine Häufigkeit errechnet wird. Bei dieser Berechnung kann etwas herauskommen, wie „das Wort und mach 0,6% dieses Textes aus, das Wort er macht 0,456% dieses Textes aus“ usw. Das kann man für die 500 häufigsten Wörte berechnen lassen oder für die 100 häufigsten oder für wieviele auch immer. Und dann kann man auch nicht nur einen, sondern viele Texte so betrachten. Die Häufigkeiten in den Texten werden verglichen. Ein Text, in dem das Wort und ebenfalls 0,6% eines Textes ausmacht, das Wort er aber nur 0,1% ist dem 1. Text weniger ähnlich als ein Text, in dem und auch 0,6% ausmacht und er 0,455%. Anders ausgedrückt: Der Abstand von Text 1 zu Text 2 ist größer als der Abstand zwischen Text 1 und Text 3. Der Deltawert für die beiden ersten Texte wäre also höher als der für Text 1 und Text 3. So weit, so klar, oder?

Wie geht das und was kommt dabei heraus?

Zum Glück ist Stylo ein Tool, das eine grafische Benutzeroberfläche hat. Das heißt, dass man nur festlegen muss, welche Texte verglichen werden sollen, welche Art von Analyse man machen möchte und welche Delta-Formel angewendet werden soll. Dann klickt man auf ok und der Computer beginnt zu rechnen. Tausende Texte sollte man auf diese Weise nicht vergleichen, aber 50 bis 75 können innerhalb von relativ kurzer Zeit verarbeitet werden. Relativ kurz bedeutet, dass es je nach Computer schon einmal fünf bis 20 Minütchen dauern kann. Mit weniger Texten geht es natürlich schneller. Und wenn du das Ganze mal selbst ausprobieren möchtest, helfen dir dabei diese Video-Tutorials:

Achtung, wenn du dieses Video startest, wird dein Nutzerverhalten von YouTube aufgezeichnet!

Im Video siehst du ja schon, dass es unterschiedliche Arten von Output gibt. Für die folgende Fallstudie sind die Grafiken besonders interessant. Natürlich zeige ich dir später noch am Beispiel, welche genau das sind.

Lou Andreas-Salomé und ihre Zeitgenossen

Lou Andreas-Salomé war eine schillernde Persönlichkeit, die am Ende des 19. und Beginn des 20. Jahrhunderts lebte. Sie war Schriftstellerin und Psychoanalytikerin. Sie war eine Zeit lang mit Paul Rée zusammen und eng mit Nietzsche befreundet. Man munkelt von einer Ménage-à-trois und Amour-fou. Später waren Lou Andreas-Salomé und Rilke ein Paar. Ich erwähne diese Liebesbeziehungen hier nicht, um sie – wie gern getan, aber darüber habe ich mich an anderer Stelle bereits ausgelassen – als „Muse“ anderer Theoretiker oder Autoren zu bezeichnen. Ich erwähne diese Freundschaften, weil sie sich erstaunlicher Weise in den Texten von Andreas-Salomé niedergeschlagen haben. Jedenfalls lässt die hier beschriebene Fallstudie das vermuten.

Aber das ist noch längst nicht alles. Lou Andreas-Salomé war äußerst gut mit anderen Intellektuellen ihrer Zeit vernetzt. Sie kannte Jakob Wassermann, Malwida von Meysenbug, Wilhelm Boelsche, Frieda von Bülow und, nicht zu vergessen: Sie war eine Schülerin Freuds. Ich selbst fing an, mich näher mit ihr zu beschäftigen, als ich in diesem Sommer beim Coding Gender Hackathon der Staatsbibliothek Berlin mitgemacht habe. Wenn du mehr über diese wunderbare Veranstaltung wissen möchtest, findest du übrigens hier einen Bericht darüber.

Die Idee, eine stilometrische Analyse ihrer Werke zu machen, hatte zwei Beweggründe. Zum einen wollte ich weg von der auf die Autorin als schillernde Persönlichkeit fixierten Perspektive und tiefer in ihr Werk hinein. Zum anderen interessierte mich, ob diese Schriftstellerin und ihre weiblichen Zeitgenossinnen, die ja zum Teil auch ihre Freundinnen waren, wohl eine Art feminines Schreiben entwickelt haben, das sie von den Autoren ihrer Zeit unterschied. Es sollte sich etwas ganz anderes zeigen.

Der erste Nebenbefund

Die Visualisierung meiner allerersten Clusteranalyse sah so aus:

Diese stilometrische Analyse zeigt Autorencluster von Lou Andreas-Salomé und ihren Zeitgenossen und Freunden. Auffallend ist die Nähe des früheren Nietzsche Textes "Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik" zu Andreas-Salomés theoretischen Texten.
#DigitalHumanities #Literaturwissenschaft #Philosophie

Du siehst, neben Andreas-Salomés Texten hatte ich Schriften von Meysenbug, Nietzsche, Freud, Boelsche, Bülow, Wassermann und Rilke im Textkorpus. Fast alle Autor*innen bilden jeweils ein eigenes Cluster, in dem all ihre im Korpus befindlichen Texte hübsch zusammengerückt sind. Es gibt drei Ausnahmen. Eine davon ist leicht wegzuerklären. Malwida Meyenbugs „Lebensabend einer Idealistin“ umfasst die Lebenserinnerungen der Autorin. Sie war sehr gut bekannt mit Andreas-Salomé und schreibt schlicht und einfach auch über die Freundin. Dass ein Nietzsche-Text so nah an Andreas-Salomés Lebensrückblick steht, lässt sich aus dem gleichen Grund erklären. Und dass ihre Nietzsche-Biografie nah bei Nietzsche-Texten steht, könnte daran liegen, dass er darin zitiert wird.

Aber woher kommt die Nähe des Nietzsche-Textes „Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik“ zu den anderen theoretischen Texten von Andreas-Salomé? Die zeigt sich in dieser einen Grafik zwar noch nicht so stark. Aber ich machte natürlich mehrere Durchläufe der digitalen stilometrischen Analyse.

Immer klebte dieser Nietzsche-Text an den theoretischen Texten von Andreas-Salomé, vor allem an „Jesus der Jude“. Ich warf sogar noch einen Nietzsche Text dazu, nämlich „Menschliches, allzu Menschliches“. Und siehe da, auch dieser Text clustert bei Lou Andreas-Salomé. Gut, dann schrieben die beiden also einfach sehr ähnlich? Das ist unwahrscheinlich, denn Nietzsches Zarathustra clustert ja hübsch für sich (oben in der Grafik in grau). Und obwohl ich deinen Blick jetzt die ganze Zeit auf Nietzsche gelenkt habe, hast du vielleicht gemerkt, dass es da noch einen Schriftsteller gibt, der eine enge Nähe zu Andreas-Salomés Texten zeigt, wenn auch zu ihrem Erzählwerk – Rilke.

Die Rolling Delta Analyse

Mein Interesse war geweckt und ich machte gleich die nächste stilometrsiche Analyse, nämlich Rolling Delta. Dabei haben wir es nicht mit einer Cluster-Analyse zu tun. Mit Hilfe der Rolling-Delta-Funktion können wir einen Text mit einer Reihe von anderen Texten vergleichen. Bei den Texten von Andreas-Salomé und Nietzsche kam Folgendes dabei heraus:

Diese stilometrische Analyse zeigt eine erstaunliche Nähe einiger theoretischer Texte von Nietzsche und Andreas-Salomé. Ganz besonders nah am Nietzsche-Stil scheint "Jesus der Jude" von Lou Andres-Salomé zu sein.
#DigitalHumanities #Literaturwissenschaft #Philosophie

Auf der horizontalen Achse liegt der Text „Die Geburt der Tragödie…“. Die untere Achse repräsentiert diesen Text linear vom ersten Wort bis zum ca. 40.000. Wort. Die roten und schwarzen Linien darüber repräsentieren die Zarathustra-Texte von Nietzsche. Die Texte von Andreas-Salomé sind grün und blau dargestellt und „Menschliches, allzu Menschliches“ von Nietzsche in türkis. In der Analyse wurden wieder Ähnlichkeiten im Gebrauch der häufigsten Wörter verglichen. Im Gegensatz zu den Clusteranalysen werden bei Rolling Delta allerdings immer Samples erstellt. Das bedeutet, dass die Vergleichstexte in Abschnitte derselben Länge (z.B. jeweils 5000 Wörter) unterteilt werden. Diese Abschnitte werden dann durcheinander geworfen und zufällig mit einem Abschnitt des Fokus-Textes verglichen (der Fokus-Text ist der auf der Horizontalen, der als einziger nicht auseinander geschnitten wird). Durch das Samplen verhindert man, dass z.B. Eröffnungsphrasen sich zu sehr in der Analyse niederschlagen.

Delta – ein relativ interessanter Wert

Berechnungsgrundlage ist wieder Delta, also das Abstandsmaß. Jeder einzelne Deltawert ist ziemlich uninteressant, nur der Vergleich der Werte bringt uns weiter. Niemand würde etwas sagen wie „Oh, mein Gott, der Deltawert zwischen ‚Die Geburt der Tragödie‘ und ‚Zarathustra‘ beträgt 12!!!“. Interessant ist aber, dass die Deltawerte zwischen Basislinie und ‚Menschliches, allzu Menschliches“ zwischen 0,5 und 9 liegen, die zwischen Basislinie und ‚Zarathustra‘ aber zwischen 5 und 12. Die Zarathustra-Texte sind also weiter weg von unserem Fokus-Text.

Was zeigt diese stilometrische Analyse?

Jetzt aber zu den Texten von Andreas-Salomé. Ihr Lebensrückblick, ihre Abhandlung über Narzissmus und ihr Text zur Erotik stehen alle kurz unter Zarathustra. Dass das so ist, ist zwar ein bisschen erstaunlich, aber mehr auch nicht. Dass die Nietzsche-Biografie ähnlich nah an ‚Die Geburt der Tragödie…‘ herankommt wie ‚Menschliches, allzu Menschliches‘ ist wenig beunruhigend. In diesem Genre sind schließlich Zitate recht wahrscheinlich. Aber was macht „Jesus, der Jude“ da? Dieser Text ist so auffallend nah an der Basislinie – nämlich genauso nah wie der Text ‚Menschliches, allzu Menschliches‘ von Nietzsche selbst.

Was wissen wir aus den Quellen

Wie lassen sich die Daten, die diese stilometrische Analyse zeigt erklären? Also, zunächst dachte ich einfach: „gut, dann stimmt sie also doch, die elende These von der Muse – sie hat ihn einfach inspiriert“. Aber dann recherchierte ich ein wenig und fand heraus, dass genau die Texte von Nietzsche, die so nah bei denen von Andreas-Salomé clusterten, geschrieben wurden, als die beiden sich noch gar nicht kannten. Die ‚Zarathustra‘-Texte wurden hingegen nach der Bekanntschaft, ja sogar nach dem Bruch zwischen Nietzsche und Andreas Salomé geschrieben.

Von Nietzsche inspiriert

Anders herum wird vielleicht eher ein Schuh daraus. Andreas-Salomé schien von der Begegnung mit Nietzsche sehr inspiriert. Immerhin hat sie eine ganze Biografie über ihn geschrieben. Auch in ihrem Lebensrückblick schreibt sie, trotz Bruch, sehr positiv über Nietzsche. Ihr Text ‚Jesus der Jude‘ ist 1896 erschienen, also weit nach der Begegnung mit Nietzsche. Auch das Thema des Textes – die Abkehr von der Religion, die menschliche, nicht-göttlich Betrachtung von Jesus – erinnert irgendwie an Nietzsche. Schließlich war er es ja, der Gott für tot erklärt hat. In jedem Fall scheint es im Wortmaterial der Texte ein paar Gemeinsamkeiten zu geben. Auch dazu habe ich noch mal eine stilometrische Analyse gemacht:

Diese stilometrische Analyse zeigt, dass Nietzsche und Andreas-Salomé einige Aspekte ihres literarischen Stils teilen. Sie zeigt auch, dass jeder trotzdem seinen eigenen literarischen Fingerabdruck hat.
#DigitalHumanities #Literaturwissenschaft #Philosophie

Gemeinsamkeiten im Wortmaterial

In dieser Grafik stehen rote Kreise für Nietzsche, grüne Dreiecke für Andreas-Salomé. Die Kreuze stehen für ‚Jesus der Jude‘. Wir sehen also zwei Dinge:

  1. ‚Jesus der Jude‘ ist ganz klar ein Text von Andreas-Salomé
  2. Nietzsche und Andreas-Salomé teilen die Vorliebe für bestimmte Wörter, was man an der Überlappung der Wortbereiche sieht.

Aber welche Wörter mögen dies sein? Schauen wir uns doch mal die von Nietzsche, in Relation zu Andreas-Salomé, bevorzugten Wörter an:

Diese stilometrische Analyse zeigt, welche Wörter Nietzsche im Vergleich zu Andreas-Salomé bevorzugt verwendet hat und welche er eher vermied. Abgesehen von der Schreibweise eint die beiden z.B. die Vorliebe für das Wort "dass". 
#DigitalHumanities #Literaturwissenschaft #Philosophie

Wir sehen also, dass das Wort „dass“ in den Andreas-Salomé-Quellen mit ß geschrieben wird und in den Nietzsche-Quellen mit ss. Das ist für Texte aus dem 19. Jahrhundert nicht weiter verwunderlich, da die erste einheitliche Regelung der Schriftsprache erst 1901 in Kraft trat (mehr über die Geschichte der Rechtschreibung gibt’s natürlich bei Wikipedia). Aber für eine stilometrische Analyse ist so etwas eine kleine Katastrophe, da dass und daß als zwei Wörter klassifiziert werden, obwohl eigentlich dasselbe Wort gemeint ist. In diesem Fall ist es nicht so schlimm, da die Nähe der beiden Schreibenden ja trotzdem erkannt wurde. Aber wir sehen nun also, dass die Vorliebe für das Wort dass die beiden eigentlich nicht trennt, wie diese Grafik suggeriert, sondern nur enger verbindet.

Was für Wörter wir hier betrachten

Wir sehen auch, dass Nietzsche sehr viel seltener seinen eigenen Namen nennt als Andreas-Salomé es tut. Auch das ist kein Wunder. Schließlich ist sie seine Biografin. Wir sehen aber auch sehr schön an dieser Grafik, worauf sich die stilometrische Analyse zumeist stützt, nämlich auf die häufigsten Wörter. Wörter wie dass eben. Wörter wie jene und haben und diese und in’s. Häufige Wörter, die uns bei unserer Interpretation zwar einen Einstieg liefern, uns aber irgendwann nicht mehr weiter führen. Denn was sagt uns die Vorliebe der beiden hier für das Wort dass? Um dem Geheimnis der Verbindung weiter auf den Grund zu gehen, habe ich also einfach mal selbst in die Texte hineingeschaut.

Stilometrische Analyse beiseite, jetzt geht es in die Texte!

Und siehe da, es gibt interessante Passagen. Die für mich hier spannendste stand aber nicht in „Jesus der Jude“ und auch nicht in „Die Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik“. Nein, ich fand sie gleich am Anfang von Andreas-Salomés Nietzsche-Biografie. Denn darin schreibt sie, dass die ersten Textentwürfe für eine Charakteristik Nietzsches bereits im Jahre 1882 entstanden. Dies war das Jahr, in dem die beiden befreundet waren. Und sie schreibt darin auch, dass sie diese ersten Entwürfe mit Nietzsche selbst durchsprach. Mich interessiert daran jetzt nicht, dass es mega weird ist, mit jemandem, mit dem man sehr, sehr gut befreundet ist und der gerade einmal 38 Jahre alt ist über dessen Biografie zu sprechen. Mich interessiert daran, dass es diese Art von Arbeitsgesprächen zwischen den beiden gab.

Die Selbstreflexionen einer Schreibenden

In ihren Lebenserinnerungen beschreibt Andreas-Salomé außerdem, dass Nietzsche ihr und Paul Rée aus seinen Werken vorlas. Und die Freunde sprachen auch über ihre Theorien miteinander. Genauso steht fest, dass Andreas-Salomé sich vor allem während dieser Zeit und nach dem Bruch mit Nietzsche, mit dessen Texten intensiv beschäftigte. Darüber schreibt sie nämlich in ihren Memoiren ebenfalls. Und sie sagt auch, dass Nietzsche für sie ein zutiefst religiöser Mensch war. Am 18. August 1882 schreibt sie zwei Dinge an Paul Rée, die für uns besonders interessant sind:

Wir erleben es noch, daß er als Verkündiger einer neuen Religion auftritt und dann wird es eine solche sein, welche Helden zu ihren Jüngern wirbt.

Lou Andreas-Salomé „Lebensrückblick“ Seite 61

Liest man nun mit solchen Beschreibungen im Hinterkopf ihren Text „Jesus der Jude“, so drängen sich Parallelen in der Gedankenwelt geradezu auf. Auch in diesem Text geht es nämlich um die Gründung einer neuen Religion. Es geht um Jünger. Und Andreas-Salomé sieht auch immer den engen Zusammenhang zwischen Religion und Genie, den sie eben gerade auch in Jesus als Mensch erkennt. Die zweite interessante Passage in dem Brief an Rée lautet:

Gemeinsame Themen, gemeinsames Denken

Wie sehr gleich denken und empfinden wir [es geht immer noch um sie und Nietzsche] darüber, und wie nehmen wir uns die Worte und Gedanken förmlich von den Lippen. Wir sprechen uns diese 3 Wochen förmlich todt, und sonderbarerweise hält er es jetzt plötzlich aus, cirka 10 Stunden täglich zu verplaudern.

Lou Andreas-Salomé „Lebensrückblick“ Seite 61

Das ist es also, was diese stilometrische Analyse uns zeigt

Ähnliche Gedanken zum Thema Religion – denn diese zweite Passage schließt unmittelbar an die weiter oben zitierte an – stundenlange Gespräche, Sätze, die einer anfängt und der andere beendet, so muss die tiefe Verbundenheit der beiden Denker zu dieser Zeit ausgesehen haben. Und für Andreas-Salomé war es wohl auch genau das, was diese Freundschaft ausmachte. Für Nietzsche, der sie eigentlich heiraten wollte und zurückgewiesen wurde, sah das vielleicht etwas anders aus.

Spannend finde ich, wie sehr die stilometrische Analyse die Geschichte der Texte und der Schreibenden wieder spiegeltet. Wie das gemeinsame Denken die Texte von Andreas-Salomé prägte und wie stark der Bruch zwischen den beiden den Stil von Nietzsche von ihrem und auch dem seiner eigenen früheren Werke fort gelenkt hat. Denn eines müssen wir uns immer vor Augen halten, wenn wir eine stilometrische Analyse durchführen: Wir betrachten hier nicht Hauptsächlich die inhaltlich signifikanten Wörter wie Genie, Religion, Gott oder Künstler. Statt dessen sind eben Wörter bedeutsam wie dass oder auch und. Es sind also hauptsächlich unbewusste Elemente des schriftstellerischen Stils, die sich hier niederschlagen. Umso faszinierender finde ich es, dass sich eine enge Freundschaft zwischen Schreibenden bis zu dieser Ebene der Texte durchschlägt.

Es wird eine weitere stilometrische Analyse geben!

Ziemlich am Anfang dieses Textes habe ich schon erwähnt, dass auch die Texte Rilkes eine Nähe zu Andreas-Salomé zeigen. Und da die stilometrische Analyse von Andreas-Salomé und Nietzsche solchen Spaß gemacht hat, verspreche ich dir an dieser Stelle, dass es einen zweiten Teil geben wird. Darin werde ich mich mit der Frage beschäftigen, was das Schreiben von Lou Andreas-Salomé und Rainer Maria Rilke verbindet. Natürlich wird es dabei auch darum gehen, ob die Verbindung zu Rilke Ähnlichkeiten zu der zu Nietzsche zeigt. Und das alles betrachte ich natürlich wieder mit Hilfe digitaler Methoden. Du darfst gespannt sein!

[cite]

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