Narrativität von Musik
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Ich war in einem klassischen Konzert und fand es richtig toll. Das ist darum so erstaunlich, da Musik für mich noch nie einen Selbstzweck hatte. Zur Musik kann man Tanzen. Bei Musik kann man lesen. Musik begleitet einen auf langen Fahrten. Aber Musik zu hören, um einfach nur Musik zu hören, das gelingt mir irgendwie nicht. Und jetzt weiß ich auch warum. Denn ich konnte in dem Konzert noch etwas feststellen: Bei Musik kann man gut nachdenken. Und meine Kernerkenntnis war: Narrativität von Musik gibt es nicht. Obwohl sich alle sehr bemühen, sie ihr abzuringen. Und obwohl es in dieser Kolumne sonst immer um Literatur geht, muss ich heute mit euch über Musik sprechen. Denn wie sollen wir den Zauber von Erzählungen erkennen, wenn wir gar nicht wissen, wovon sie sich eigentlich abheben? Nun, darüber möchte ich heute mit dir nachdenken.
Über Narrativität von Musik
Wenn man über die Narrativität von Musik spricht, so kommt früher oder später immer das Peter-und-der-Wolf-Argument auf den Tisch. Das Peter-und-der-Wolf-Argument geht in etwa so: Aber bei Peter und der Wolf zum Beispiel, höre ich doch genau, wann welche Figur auftritt und wann die Stimmung fröhlich ist und wann dramatisch. Ja, das stimmt schon, aber für genau diese Musik gibt es ja eine recht weit verbreitete Rezeptionskonvention. Ich wette vielen von euch geht es wie mir. Als Kind haben wir Peter und der Wolf in Form eines musikalischen Hörbuchs zum ersten Mal gehört. Darin werden am Anfang die Instrumente vorgestellt und es wird klar gemacht, für welche Figur sie stehen. Dann wird nach und nach immer ein kurzes Musikstück gespielt und danach die Geschichte vom Erzähler weiter geführt. Es wird also eine sprachliche Erzählung mit der Musik und den Instrumenten verknüpft. Später reicht es uns dann, die Musik zu hören, um die Geschichte aufzurufen. Musik und Erzählung sind so eng verbunden, dass wir uns nicht mehr vorstellen können, wie es sein würde, die Musik zu hören, ohne die Geschichte zu kennen. Okay, aber selbst wenn wir Musik zum ersten Mal hören fällt uns doch auf, wann sie fröhlich ist, wann spannend, traurig oder romantisch. Und dann gibt es auch noch Geräusche, wie z.B. einen Knall, das Splittern von Glas und wir haben sofort ein Geschehen im Kopf – einen Unfall z.B. Wie kann ich also behaupten: „Narrativität von Musik gibt es nicht!“?
Über Narrativität
Dazu muss man natürlich erst einmal überlegen, was überhaupt Narrativität ist. Man könnte sich zum Beispiel darauf einigen, dass eine Erzählung eine Folge von Ereignissen ist. Von diesen erzählt jemand jemand anderem. Das geschieht aus einem bestimmten Grund und bei einer bestimmten Gelegenheit. Damit hätte man in etwa das, was James Phelan unter einer Erzählung (a narrativ) versteht. Was aber ist ein Ereignis (event)? Nun, davon gibt es, darüber sind sich Erzähltheoretiker weitgehend einig, zwei Sorten. Event I ist eine simple Zustandsveränderung. Um mal ein klassisches Beispiel zu nehmen: Der Satz „der König starb“ enthält ein Ereignis, denn der Zustand des Königs verändert sich vom Leben zum Tode. Das ist noch nicht unbedingt narrativ, denn es ist ja nur ein Event. Setzt man dazu den Satz: „Dann starb die Königin vor Kummer.“ So hat man ein Minimalnarrativ, denn aus diesen beiden Ereignissen ergibt sich eine Geschichte. Ok, an dieser Stelle muss ich natürlich einmal sagen, dass das meiner Meinung zum Thema Minimalnarrativ entspricht. Man kann natürlich auch der Meinung sein, für eine Erzählung brauche man gar nicht unbedingt zwei Events oder man brauche noch mehr.
Eventfullness und Narrativität
So, jetzt schulde ich dir noch eine Erklärung dafür, was man unter einem Event II versteht. Event I war ja eine simple Zustandsveränderung. Events II sind auch Zustandsveränderungen, aber sie haben noch weitere Qualitäten. Sie sind z.B. besonders einzigartig, unerwartet oder neuartig. Insgesamt gibt es fünf Qualitäten, die ein Event I zu einem Event II machen können. Diese Eigenschaften nennt man auch Eventfullness und sie stehen in direktem Zusammenhang mit Narrativität. Je mehr Eventfullness desto mehr Narrativität. Wenn du mehr darüber wissen möchtest, schau unbedingt beim Living Handbook of Narratology vorbei, dort gibt es einen einführenden Artikel darüber von Peter Hühn.
Events in der Musik
Zurück zur Narrativität von Musik, die es ja eben nicht gibt. In der Musik haben wir viele Events. Der Zustand der Melodie verändert sich von laut zu leise, von melancholisch zu fröhlich zu dramatisch. Das betrifft aber immer nur den Zustand der Musik selbst; ein richtiges Feuerwerk der Emotionalität. Aber wir haben eben Niemanden, der zum Träger all diese Emotionen wird, Niemanden, der handelt, Niemanden, dem etwas widerfährt. Nun habe ich bei meinem Konzertbesuch beobachtet, dass sich da schon Viele sehr viel Mühe geben, zum Träger der Emotionen und Zustandsveränderungen zu werden. Allen voran der Dirigent. Der legt sich so ins Zeug! Geht mit, fast schon wie in einem Tanz, und zeigt sehr deutlich die Emotionen in der Mimik. Er ist eindeutig ein Eingeweihter, weiß um die Bedeutung der Komposition und möchte sie dem Publikum so gern vermitteln. Einige Musiker scheinen das übrigens auch zu wollen. Sie sind so einfühlsam und gehen richtig mit der Musik mit. Das ist berührend, aber nicht narrativ. Keine Geschichte entspinnt sich, keine Handlung. Es sei denn, man weiß bereits, worum es hier gehen soll.
Narrativität von Musik – eine Übersetzungsleistung
Na und als ich da so saß und herauszufinden versuchte, was man mir sagen wollte, da kam mir noch ein anderer Gedanke. Einer, der mit einer persönlichen Geschichte verbunden ist. Ich bin ein großer Fan des Balletts. Habe selber viele Jahre lang, ja sogar Jahrzehnte getanzt. Und meistens, wenn ich in einem klassischen Konzert bin (was sehr selten der Fall ist), sehe ich vor meinem inneren Auge Tänzer. Pas de Deux, Solo, Corps des Ballets, was gerade so passt. Und da Ballett ein narratives Medium ist, bildet sich für mich eine Geschichte. Ja, aber ist Musik dann nicht doch narrativ? Ist doch am Ende dann doch eine Geschichte im Kopf! Nein, denn was ich tue, ist nichts anderes, als die Musik in ein narratives Medium zu übersetzen. Eines, dessen Grammatik ich verstehe. Nun möchte ich nicht abstreiten, dass es sehr wohl Menschen gibt, die die Grammatik der Musik verstehen und für die Musik also Narrativität besitzt. Aber ich würde sagen, dass es sich hier um einen eher kleinen Kreis von Eingeweihten handelt.
Ich habe schon von dem engagierten Einsatz des Dirigenten und einiger Musiker berichtet. Und ich kann mir vorstellen, dass ihr Wunsch, die Narrativität von Musik unter Beweis zu stellen ehrlich und groß ist. Wie sehr wurde Musik schon zum Beiwerk herabgesetzt. Filmmusik, Pausen-Musik, Warteschleifen-Musik, Fahrstuhl-Musik und wohl am schlimmsten Bahnhofsmusik, die bestimmte soziale Gruppen verscheuchen soll. Ja, bei meinem so sehr geliebten Ballett verbannt man die Musiker sogar in einen Graben, damit sie die Sicht auf das eigentliche Geschehen nicht verstellen. Das Auslösen von Emotionen, die Unterstreichung – ok. Aber Musik als Selbstzweck? Eher nicht!
Keine Narrativität? Macht doch nix!
Und nachdem ich ungefähr im ersten Drittel des Konzerts auf der Suche nach einer Story war und im zweiten Drittel über Narrativität von Musik nachgedacht habe, fiel mir auf einmal auf, dass ich mich schon lange nicht mehr so lange und intensiv am Stück meinen Gedankengängen frei hingegeben hatte. Abgesehen davon, dass mir die Musik selbst gefiel, dass sie emotional war und kunstvoll vorgetragen, hatte sie mir etwas Seltenes beschert. Die Freiheit, einfach mal nachzudenken. Und zwar nicht nur immer Gedankengänge, die zielgerichtet geradeaus gehen. Nein, die Dynamik der Musik kann einen mitreißen, einen zum (gedanklichen) Springen, Imaginieren und Pirouettendrehen bringen. Ich finde, dies ist eigentlich ein ziemlich herrlicher „Selbstzweck“ von Musik. Muss ja nicht immer alles narrativ sein, oder?