Belletristik-Rezension: Laurent Binets „die siebte Sprachfunktion“ oder: Sherlock Holmes war gestern
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Ganz ehrlich: Als ich auf dieses Buch aufmerksam wurde, nur weil es „Die siebte Sprachfunktion“ heißt, fühlte ich mich schon mehr als ein wenig wie ein Literaturwissenschaft-Nerd. Mir war klar, dass die Idee, eine Art intellektuellen Kriminalroman um den Tod von Roland Barthes zu schreiben furchtbar nach hinten losgehen könnte. Sie könnte aber auch genial sein. Obwohl der Autor es vielleicht mit dem ein oder anderen narrativen Kniff etwas übertrieben hat, hat er es zum Glück geschafft, die zweite Möglichkeit wahr werden zu lassen. Und so kann ich euch heute von einer herrlich aberwitzigen Lektüre berichten. Denn Laurent Binets „die siebte Sprachfunktion“ hat ganz viel poststrukturalistischen Charme! Und ich hätte wirklich nie gedacht, dass ich solch eine Phrase mal in einer Rezension verwenden würde.
Alles beginnt als sich im Jahr 1980 ein Verkehrsunfall ereignet. Ein Mann wird von einem Kleintransporter angefahren und lebensgefährlich verletzt. Es ist Roland Barthes und in seiner Jackettasche hatte er ein Schriftstück, dessen Inhalt seinem Leser grenzenlose Macht bringen kann. Wenige Tage später erliegt Barthes seinen Verletzungen im Krankenhaus. Zu diesem Zeitpunkt haben die Ermittlungen aber schon begonnen. Der wenig geisteswissenschaftlich interessierte Polizist Bayard wird allerdings weniger dazu auserkoren, den Täter zu finden. Stattdessen soll er das Schriftstück sichern und seinem obersten Chef, dem Präsidenten Giscard überbringen. Nicht auszudenken, was geschehen würde, wenn sein Konkurrent Präsidentschaftsanwärter Mitterand in den Besitz des Dokuments gelangen würde. Der eher etwas soldatisch anmutende Bulle Bayard macht sich also auf an die Universitäten von Paris. Doch seine Verachtung für die Hippie-haften Studenten und sein Unverständnis der Sprache von Professoren wie Foucault bringen ihn nicht weiter. Und dann trifft er auf den eigentlichen Helden der Geschichte.
Laurent Binets „die siebte Sprachfunktion“ scheint zu sagen: „Nimm das, Sherlock Holmes!„
Unvergesslich ist für Kenner der Kriminalliteratur die Szene, in der Dr. Watson das erste Mal auf Sherlock Holmes trifft. Der legendäre Meister der Deduktion sagt seinem zukünftigen Assistenten auf den Kopf zu, dass er Soldat und Veteran des Afghanistan-Krieges sei. Dabei steht er inmitten eines Labors. Arbeitet gerade an einem Test, der die Tätererkennung auf der Basis von Blutproben ermöglichen soll. Ein Natruwissenschaftler, der seiner Zeit weit voraus ist. Ein Mann, der die Deduktion so weit perfektioniert hat, dass er nicht nur Tatorte, sondern auch Menschen lesen kann wie Bücher.
Der hochfunktionale Soziopath in Conan Doyles „Sherlock Holmes“
Das Bild wird noch perfektioniert in der BBC-Neuverfilmung „Sherlock“. Hier wird der Held als „hochfunktionaler Soziopath“ bezeichnet. er ist so sehr in seiner naturwissenschaftlichen Deduktion verhaftet, dass er ziemlich ungeeignet für die zwischenmenschliche Kommunikation ist. Und jetzt betritt also Simon Herzog die literarische Bühne und erschüttert unseren schon über 100 Jahre währenden Glauben an die Wunder naturwissenschaftlicher Deduktion.
„Sie haben am Algerienkrieg teilgenommen, Sie waren zwei Mal verheiratet, Sie haben sich von Ihrer zweiten Frau getrennt, Sie haben eine Tochter, die noch nicht zwanzig ist und zu der Sie ein schwieriges Verhältnis haben, Sie haben bei der vorigen Präsidentschaftswahl in beiden Wahlgängen für Giscard gestimmt, und sie werden bei der nächsten wieder konservativ wählen, Sie haben einen Kollegen in Ausübung seines Dienstes verloren, vielleicht durch Ihr Verschulden, jedenfalls machen Sie sich Vorwürfe deshalb und sind darüber nicht mit sich im Reinen, aber Ihre Vorgesetzten sind zu der Einschätzung gelangt, dass es nicht im Bereich Ihrer Verantwortung lag. Und Sie haben den neuesten James Bond im Kino gesehen, obwohl Sie eigentlich einen guten Maigret im Fernsehen oder die Filme mit Lino Ventura vorziehen.“
Der Semiotiker in Laurent Binets „die siebte Sprachfunktion“
Bähm, nimm das Sherlock Holmes, von wegen Soziopath! Simon Herzog wirft seinem zukünftigen Partner diese Sätze in einem vollen Café ins Gesicht. Ein eigenes Büro hat er nicht. Statt die Überlegenheit eines Holmes an den Tag zu legen, fühlt sich Simon wie bei einer Prüfung mit einem besonders strengen Prüfer. Und doch beweist hier der chronisch unterschätzte Geisteswissenschaftler, dass er der wahre Meister der Deduktion ist. Warum? Ganz einfach, weil er menschliche Zeichen, Codes und Haltungen interpretiert. Damit kommt er viel weiter als mit einer Abhandlung über 140 unterschiedliche Arten von Tabakasche.
Die Welt der Poststrukturalisten
Und so werden der Bulle Bayard und der Post-Doc Simon zum unzertrennlichen Duo. Der jüngere führt den älteren tief in die Gesellschaft der Poststrukturalisten ein. Sie treffen nicht nur Foucault, sondern auch die Kristeva und ihren Literaten-Ehemann Sollers, den alle überragenden Derrida und viele andere. Die Spur führt sie zur Geheimgesellschaft des Logos-Clubs, einer Art Debattier-Verein mit strenger Hierarchie. Hier können Ranghöhere herausgefordert werden, um den eigenen Status zu erhöhen. Aber der Einsatz ist hoch, denn wenn ein Herausforderer verliert, so muss er einen Finger opfern.
Nachdem Bayard und Simon herausgefunden haben, dass alle Beteiligten im Grunde auf der Suche nach der „siebten Sprachfunktion“ sind verdichten sich die Ereignisse. Dabei handelt es sich um eine semiotische Formel, die denjenigen, der sie beherrscht, jedes Rededuell gewinnen lässt. Es gibt Bombenanschläge und Wortduelle. Spione tauchen auf und es geschehen weitere Morde. Auch vor den höchsten Rängen der Intellektuellen machen die Verschwörer nicht Halt. Ich versuche, hier nicht zu spoilern. Darum sei nur so viel gesagt, dass der Autor neben seinen Poststrukturalisten und den Klassikern der Kriminalliteratur auch die Finessen von Action und Spannung kennt.
Warum immer dieses „Meta“
Einen einzigen kleinen Abzug gibt es von mir in der B-Note dieses Lesevergnügens. Es ist ja nicht unmodern, aus einem Roman auf die Metaebene zu wechseln; Figuren plötzlich merken zu lassen, dass sie Teil eines Romans sind. Oder den Erzähler z.B. sagen zu lassen, dass es nicht auf ein bestimmtes Café ankomme, in dem die Figuren gerade sitzen, sondern, dass man sich als Leser auch ruhig ein anderes denken könne.
Ich bin nicht grundsätzlich gegen diese Gedankenspiele. In Sophies Welt damals war es ein schöner Plot-Twist. Daniel Kehlmanns Figur Rosalie, die sich einfach nicht von ihrem Autor töten lassen möchte, hat mir gut gefallen. Der Film Ruby Sparks, in dem ein Schriftsteller sich eine Freundin ins Leben schreibt, ist auch ein tolles Beispiel. Aber hier wirkt es nur wie ein weiterer Kniff, von dem uns der Autor wahrscheinlich nur zeigen möchte, dass er ihn kann. Die Geschichte bringt das nicht voran und eine leichte Irritation beim Lesen ist mir einfach zu wenig Effekt für diese Technik. Aber wie gesagt, ist das für mich auch nicht mehr als ein kleines Minus in diesem ansonsten ganz wunderbaren Roman.
Bitte mehr davon!
Am Ende stehe ich also tatsächlich hier und möchte mehr von dieser rasanten Mischung aus Literaturwissenschaftlicher Sozialstudie, Sherlock Holmes Krimi und James Bond Film. Der feingeistige Simon und sogar auch der knurrige Bulle Bayard sind mir ans Herz gewachsen. Außerdem gefällt mir das Übersprudeln des Autors vor narrativen Ideen. Selbst wenn er damit über das Ziel hinaus schießt und den ein oder anderen Clou zu viel einbaut. Hier hat jemand Spaß am Erzählen und zeigt das auch.
Statt eine intellektuelle Ernsthaftigkeit an den Tag zu legen, in der Hoffnung man möge die Literatur und ihre Wissenschaft endlich ernst nehmen, betrachtet er die Szenerie, die er selbst aufbaut lieber mit einem Augenzwinkern. Und trotz dieses Sinns für Humor zeigt uns Laurent Binets „die siebte Sprachfunktion“ doch auch, dass Geisteswissenschaften denselben Zauber besitzen wie die Naturwissenschaften. Schließlich dienen auch sie letztlich dazu, die Welt besser zu verstehen und ihre Geheimnisse zu entschlüsseln. Falls du jetzt immer noch nicht genügend Argumente hast, um „die siebte Sprachfunktion“ zu deiner nächsten Lektüre zu machen, dann kommt jetzt noch der absolute Überzeugungsknaller: Dieses Buch zu lesen macht einfach Spaß!