Mythos vom guten Buch: Gibt es sie nun, die literarische Qualität oder nicht? Heute wird das Geheimnis gelüftet. #Lesen #Literatur #Buecher
Kolumne

Der Mythos vom „guten Buch“

Ich habe gelesen, mehr gelesen, war Buchhändlerin und bin Literaturwissenschaftlerin. Und dennoch gibt es kaum eine schwierigere Situation für mich als die, in der mein Gegenüber mich fragt: „Hast du mal ein gutes Buch für mich?“. Denn in den meisten Fällen müsste ich ehrlicher Weise antworten: „Nein, für dich leider nicht.“ (wenn ich den Menschen gut kenne). Oder ich müsste schlaumeiermäßig und klischeehaft etwas sagen wie: „was ist denn für dich ein gutes Buch?“ (wenn ich den Menschen nicht gut kenne). Warum Buchempfehlungen so schwer sind, warum es auch nicht hilft, dass Menschen, die Buch a kaufen auch gern Buch b kaufen und wie du trotzdem gute Quellen für Buchempfehlungen findest, diese Fragen rund um den Mythos vom guten Buch beantworte ich heute.

Was ist ein gutes Buch?

Ein gutes Buch ist ein Buch, das du, aus welchen Gründen auch immer, gerne liest. So einfach die Definition. DAS gute Buch für dich zu finden, ist viel schwieriger. Das liegt am Buchgeschmack. Also an deinem. Denn dieses so eindeutig klingende Wort „Buchgeschmack“, ist total irreführend. In Wahrheit liest nämlich niemand gern ständig thematisch und erzählerisch ähnliche Bücher. Viel wahrscheinlicher ist, dass du mal gerne einen guten Krimi liest, dann eine komplexe Familiengeschichte, dann „was Lustiges“, dann was heftig Aufrüttelndes, dann etwas, das einfach sprachlich faszinierend ist, dann… Es muss halt irgendwie gut sein. Und dieses „irgendwie gut“ beinhaltet meistens zahlreiche Aspekte. Genre, Thema, Spannungsaufbau, Tonfall, Wortwahl, Verhältnis von Konflikten und Lösungen, Erfindungsreichtum und bestimmt noch viel mehr, trägt dazu bei, dass du ein Buch gerne liest. Oder eben auch nicht. Manche dieser Aspekte sind für dich bestimmt wichtiger als andere. Darum hast du vielleicht auch gar keinen einheitlichen Buchgeschmack, sondern eher ein komplexes literarisches Profil. Da sind dann vielleicht auch Bedingungen für einzelne Faktoren mit drin. Sowas wie „wenn Krimi, dann mit verkorkstem Ermittler“ z.B.

Literarizität oder literarische Qualität

Trotzdem gibt es sie ab und zu, diese Bücher, die überdurchschnittlich viele Menschen gerne lesen. Bücher, die viele, die sich professionell mit Literatur auseinander setzen als gut bewerten. Bücher, die unabhängig davon, wer sie liest gut sind. Oder? Tatsächlich scheint es Faktoren zu geben, die dazu führen, dass viele Menschen ein Buch als literarisch bewerten. Sogar, wenn sie es gar nicht gelesen haben. Das hat eine groß angelegte Studie gezeigt, die in den Niederlanden eine Umfrage gemacht und ausgewertet hat, um „das Rätsel der literarischen Qualität“ (so der Projektname) zu lösen. Hier spielen dann natürlich auch Aspekte eine Rolle, die gar nicht unmittelbar mit dem Text verknüpft sind. Image von Autor und Verlag zum Beispiel. Es sind also auch kulturell oder gesellschaftlich ausgehandelte Bewertungen, die dazu führen, dass wir selbst ein Buch gut finden oder nicht. Diese Produktion und Reproduktion kollektiver Werturteile ist in meinen Augen übrigens genau das, was den Beginn der Kanonisierung von Büchern ausmacht. Aber das ist ein anderes Thema.

Wenn ihnen dieses Buch gefallen hat, gefällt ihnen vielleicht auch…

Ein anderes Problem mit der literarischen Qualität ist, dass sie manchmal einfach gar nicht das ist, was wir suchen, wenn wir ein gutes Buch finden wollen. Das haben auch die großen online-Buchhändler erkannt. Darum setzen sie Algorithmen ein, die auf Entscheidungsprofilen einzelner und mehrerer Kund*innen beruhen. Eine Mischung aus ‚da du Buch a gekauft hast, könntest du auch Buch b kaufen wollen‘ (Buchähnlichkeit) und ‚andere Kunden, die Buch a gekauft haben, kauften auch Buch b‘ (Kundenähnlichkeit). Buchähnlichkeit beruht dann vielleicht auf Metadaten wie Autor, Genre, Verlag. Kundenähnlichkeit kann anhand von Kaufprofilen ermittelt und abgeglichen werden. Wenn du Bewertungen für deine Buchkäufe vergibst, können die natürlich auch noch berücksichtigt werden. Am Ende stehen dann relativ komplexe Algorithmen, die meist eher mäßig gut funktionieren.

Da du wahrscheinlich aus den unterschiedlichsten gründen Bücher kaufst, ebenso wie andere Kunden, denen du im Kaufverhalten ähnelst, weiß der Algorithmus nie wirklich, wonach du gerade suchst. So schlägt er dir Klassiker vor, wenn du gerade viele Klassiker gekauft hattest und Sachbücher, wenn du vor Kurzem einen Schwung davon brauchtest. Aber niemand liest tatsächlich immer nur das Gleiche oder Ähnliche. Die Abwechslung ist Teil des Vergnügens.

Mythos vom guten Buch: Gibt es sie nun, die literarische Qualität oder nicht? Heute wird das Geheimnis gelüftet. #Lesen #Literatur #Buecher

Dein persönlicher „gutes Buch“-Code

Nachdem wir uns angeschaut haben, was nicht oder nur mäßig gut funktioniert, könnten wir jetzt zu dem Schluss kommen, dass Buchempfehlungen einfach gar nicht funktionieren. Zu unterschiedlich ist das, was ein gutes Buch zu einem bestimmten Moment für eine bestimmte Person ausmacht. Aber es funktioniert ja doch. Es gibt ja die Menschen, die zielsicher Bücher herauspicken können, die uns wirklich gefallen. Richtig gute Buch-Buddies. Mit diesen Leuten teilst du wahrscheinlich einen kleinen Teil deines persönlichen Buchprofils. Wenn du herausfindest, welcher das ist, so könnt ihr euch über lange Zeit hervorragend mit Buchempfehlungen versorgen. Hast du eine Reihe von Freund*innen gefunden, die jeweils einen Teil deiner Buchgeschmack-DNA teilen, so deckst du vielleicht sogar insgesamt deinen ganzen persönlichen „gutes Buch“-Code ab.

Aber was heißt das für dich, wenn du professionell mit Büchern arbeitest und auch Buchempfehlungen geben musst? Hier ist Sensibilität gefragt. Denn die Vielfalt dessen, was den Buchgeschmack ausmacht, kann zu deiner Spielwiese werden. Versuche, dich auf die Wellenlänge deines Gegenübers zu begeben und zumindest ein Teil von dessen gutes-Buch-Code aufzuspüren. Gelingt dir das und deine Empfehlung passt, hast du wahrscheinlich einen langfristigen Kunden gewonnen. Gelingt dir das und du merkst, dass ihr einfach keine noch so winzige Übereinstimmung habt, wird es schwierig. Dann hilft der Abgleich mit Kolleg*innen, die vielleicht passendere Empfehlungen geben können. Am Schluss scheint der letzte Rettungsanker dann meistens nur noch zu sein, das zu empfehlen, was andere Kunden gut fanden, von denen du glaubst, dass sie ein ähnliches Buchprofil haben könnten. Hier stocherst du dann aber wirklich im Trüben und es wird dir wahrscheinlich keine gute Empfehlung gelingen.

Der Mythos vom guten Buch und der Kampf von Mensch und Maschine dafür

Ok, ich glaube, der Punkt, dass es DAS gute Buch nicht gibt, ist klar geworden. Warum aber kämpfen wir – Menschen wie Algorithmen – trotzdem so sehr dafür, es zu finden? Oder vielleicht genauer: Darum gute Bücher berechenbar zu machen? Bücher kosten sehr viel Zeit und auch Geld und die Ansprüche, die wir daran haben, sind hoch. Autor*innen bringen Wochen, Monate, manchmal Jahre damit zu, ein Buch zu schreiben. Verlage stecken Zeit, Aufwand und Geld in die Vermarktung. Leser*innen verbringen wochenweise zusammengeklaubte, wertvolle Freizeit mit ihnen. Sie wollen unterhalten und gebildet, bespaßt und geläutert werden. Nur die besten der besten Bücher sollen schließlich kommenden Generationen in der Schule das Denken und die Basis unserer Kultur lehren. Du siehst also, die Erwartungen sind hoch. Wie schön wäre es, ein für alle Mal die Spreu vom Weizen zu trennen und Autor*innen, Verlage und Leser*innen alle gleicher Maßen glücklich zu machen?

Zwar wurde ja vor einiger Zeit bereits ein Bestseller-Code geknackt, doch in meinen Augen sind Computer, was Buchempfehlungen angeht, noch ziemlich weit zurück. Genauso holprig ist es aber, wenn zwei Menschen Buchempfehlungen austauschen, die einfach nicht auf einer Wellenlänge liegen (dazu kommt, dass hier meist menschliche Enttäuschung mit reinspielt, wenn eine Person sich als ebenso (un-)fähig erwiesen hat, ein gutes Buch ausfindig zu machen wie die Algorithmen der großen online Anbieter). Gut ist, wenn man schon einmal merkt, dass man nicht zusammen kommt und darum gar keine Buchtipps austauscht.

Wie man durch „buy local“ den Mythos vom guten Buch am Leben halten kann

Gewonnen ist der Kampf dann, wenn Menschen zueinander finden, die ähnliche Leseprofile haben. Hier ist die zwischenmenschliche Empfehlung einfach unschlagbar. Eine Erkenntnis, die auf dem Buchmarkt vor allem lokale Buchhändler*innen eindeutig für sich nutzen können. Denn nur sie haben die Möglichkeit, ihre Kunden kennen zu lernen und herauszufinden, wie der persönliche „gutes Buch“-Code aussieht. Dazu wird es aber natürlich nur kommen, wenn auch Leser*innen das zulassen und trotz der verlockenden Einfachheit des online Handels lieber auf „buy local“ setzen. Hier hilft der Mythos vom guten Buch dann sogar dabei, sich gemeinsam auf die Suche danach zu machen und es auch zu finden. Denn diese Suche ist schließlich das Kerngeschäft des Buchladens um die Ecke.

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