kritische Digital Humanities - brauchen wir mehr davon oder gibt es das schon längst überall? Ein Lektürekommentar. #DigitalHumanities #Studieren
Rezensionen

Kritische Digital Humanities, gibt es das nicht schon längst?

Die digitalen Geisteswissenschaften bauen lieber Dinge als darüber nachzudenken, wie diese gebaut sein sollten oder warum sie gebaut sein sollten. Die Digital Humanities reproduzieren den Kanon. Die computergestützten Methoden implementieren einen normativen Blick auf die Literaturgeschichte. Die Kritikpunkte, die James E. Dobson in seinem Buch „Critical Digital Humanities“ anführt, sind berechtigt und produktiv. Wahrscheinlich auch, weil Dobson die vorgestellten und analysierten Methoden sehr genau kennt. Trotzdem fehlt mir hier der Blick auf Orte, an denen kritische Digital Humanities bereits stattfinden. Die liegen zum Beispiel hier in Europa, wo Dobson aber nur selten seinen Blick hinwandern lässt.

Warum wir kritische Digital Humanities brauchen

Die digitalen Geisteswissenschaften sind ein sehr vielfältiges Forschungsfeld. Die Methoden, die hier angewendet werden, kommen aber häufig aus der Computerlinguistik. Nun versteht man ja unter bestimmten Begriffen in der Linguistik etwas anderes als in den Geschichtswissenschaften und wieder etwas anderes in den Literaturwissenschaften und in der Informatik, die ja auch immer mit im Boot ist, noch einmal etwas anderes. Wir reden also sehr häufig mit gleichen Worten von unterschiedlichen Dingen. Aber das ist nicht alles. Wir erwarten von den Methoden, die wir einsetzen, auch unterschiedliche Ergebnisse. Da Software manchmal als „Black Box“ daher kommt, die man als nicht-Informatiker*in nicht komplett verstehen kann, kann es sein, dass wir falsche Schlussfolgerungen ziehen. Wir müssen also den Blick in unsere Tools hinein wagen.

Begriffe, Methoden, Tools, genaue Begriffskenntnis ist wichtig

Eine der größten Stärken von „Critical Digital Humanities“ ist in meinen Augen die genaue und immer leicht historisierende Begriffsarbeit. Dobson legt immer offen, welche Verwendung der Methode er gerade in den Blick nimmt. Er definiert Begriffe und erklärt ihren Ursprung. Das macht er zwar meistens nicht übermäßig ausführlich und eine Einführung in zentrale Begriffe der digitalen Geisteswissenschaften findet man hier wahrlich nicht. Aber für diejenigen, die sich ein wenig in den DH auskennen, gibt er eine gute Orientierung, wo er selber steht. Und er zeichnet die noch nicht besonders lange Geschichte des Forschungsfeldes auf diese Weise grob nach.

Zentrale Kritikpunkte an den Digital Humanities

Die Hauptaussage in Dobsons „Critical Digital Humanities“ ist, dass wir bewusster mit digitalen Methoden umgehen müssen. Dazu gehört z.B. der Aspekt dass wir nicht der Einfachheit halber und ohne weiter darüber nachzudenken Texte aus einem einzigen Archiv übernehmen sollen. Ein Archiv zeigt nämlich immer nur einen Teil dessen, was man alles hätte sammeln können. Und leider nutzen Digital-Humanities-Projekte tatsächlich häufig kanonisierte Literatur. Dobson selbst wirkt dem entgegen, indem er Literatur eines besonderen Archivs für seine Fallstudien wählt, nämlich einem, das nur nordamerikanische Sklaven-Narrative sammelt. Er testet also die Methoden an einer marginalisierten Literaturform, die nicht in die Trainigsprozesse der gewählten Tools integriert worden ist.

Zu dieser Art von bewusstem Arbeiten gehört auch, dass wir uns unsere Workflows klar machen müssen. Bei jedem Arbeitsschritt treffen wir Entscheidungen. Nicht nur bei der Wahl des Archivs, sondern auch bei der Wahl eines bestimmten Tools. Wir entscheiden, ob wir die Texte vor der digitalen Analyse aufbereiten oder nicht und wenn ja wie. Wir nutzen Modelle, die unsere Hypothesen beinhalten und wir produzieren Daten. Ausnahmslos jeder dieser Schritte sollte reflektiert werden. Wir müssen uns klar sein, dass wir dabei interpretative Entscheidungen treffen, die sich auf die Daten auswirken. Objektive Daten gibt es nicht.

Was können wir und was können wir nicht? Die Selbstreflexion

Ein anderer Aspekt, den Dobson zeigt, ist, dass wir uns bewusst machen sollten, dass DH-Methoden nicht alles können. Wenn man Sentiment Analysen mit einem Wörterbuch emotionstragender Wörter betreibt, dass etwa 10.000 Ausdrücke umfasst, werden damit nicht sämtliche literarischen Texte einer Sprache untersucht werden können. Wenn wir Topic Modeling betreiben, so bearbeiten wir die Datenbasis während des gesamten Prozesses interpretativ. Dabei entfernen wir uns von unserer Datenbasis. Und zwar schon bevor wir mit der bewussten Interpretation beginnen. Manchmal sind wir dann aber schon viel zu weit weg, um zu wirklich intensive Einsichten zu gelangen. Außerdem bekommt man mit digitalen Tools häufig einen Überblick über die betrachteten Daten; wir beobachten eine Art Normalverhalten. Ausreißer, Abweichungen, alles, was die Geisteswissenschaften eigentlich hauptsächlich in den Blick nehmen, fällt dabei raus.

Was tut eigentlich der Rest der Welt für „kritische Digital Humanities“

Dobson zeigt also sehr genau, dass es DH-Studien gibt, in denen zu wenig theoretische Reflexion steckt. Er führt eher selten Positivbeispiele an. Damit unterscheidet er sich z.B. von Roopika Risam, deren Buch „New Digital Worlds“ ich vor Kurzem auch gelesen habe und die in ihrer postkolonialen Kritik sehr deutlich Projekte hervorhebt, die schon den richtigen Weg weisen. Liest man Dobsons Buch sieht man also die These, dass Digital Humanities theorielos seien eher bestätigt als zurückgewiesen. Doch beim Lesen beschlich mich immer deutlicher das Gefühl, dass Dobson selbst etwas macht, das er in seinem Buch kritisiert. Er fokussiert ein Gebiet der digitalen Geisteswissenschaften und verengt damit den eigenen Blick ebenso sehr wie diejenigen, die er kritisiert. Und sein Blick ist ein anglo-amerikanisch geprägter.

Derweil in Europa

Denn aus meiner eignen Perspektive sehe ich viele der Kritikpunkte, die in „Critical Digital Humanities“ erwähnt werden, bereits sehr stark im Bewusstsein der Forschungscommunity verankert. Ich selbst arbeite schon lange mit Kolleg*innen zusammen, die digitale Geisteswissenschaften und Hermeneutik zusammen denken (z.B. Meister, Gius, Jacke, Kleymann). Auch für die Methodik der Autorschaftsattribution und Stilometrie, die Dobson als eine Beispielmethode erwähnt, gibt es schon kritische Studien, die Tool und Methodik nicht als Black Box nutzen, sondern genau unter die Lupe nehmen (z.B. von Rybicki und Eder).

Sehr deutlich wurde der vielleicht schon etwas kontinental-europäische Hang zur kritischen Betrachtung auch in der Abschlusskeynote der diesjährigen (2020) Konferenz der Digital Humanities im deutschsprachigen Raum. Darin richtete sich Alan Liu direkt an viele der anwesenden Forscher*innen, die ihre gesamte Arbeit auf die Wissenschaftstradition der Hermeneutik stützen und so auch traditionell geisteswissenschaftliche Forschung und digitale Ansätze zusammen denken (Liu 2020: ab Minute 13). Auch gibt es seit Neuestem eine Arbeitsgemeinschaft zur Theorie in den digitalen Geisteswissenschaften im Verband der Digital Humanities im deutschsprachigen Raum. Übrigens eine AG die auch bereits im RaDiHum20-Podcast vorgestellt wurde, zu dessen Host-Team ich selbst gehöre.

Kritische Digital Humanities sind mitten unter uns!

Dobsons Buch ist natürlich trotzdem lesenswert, denn seine Kritikpunkte sind nicht falsch. Jede*r, der sich noch nicht über diese Fallstricke der Digital Humanities bewusst ist, sollte das werden. Doch ich denke, der Weg, den er zeichnet, ist längst beschritten. Kritisches Denken ist in den digitalen Geisteswissenschaften angekommen und wird so schnell auch nicht wieder verschwinden.

Dobson, James E. (2020): Critical Digital Humanities. Univesity of Illinois Press. 9780252042270

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